Hier stand eine seiner Festungen, Vraccastrotz.
Fünfzig Zyklen hatte es gebraucht, um sie nach seinen Plänen und Wünschen erstehen zu lassen. Ein vergleichbares Mauerwerk von solcher Härte und Dicke fand sich nirgends sonst mehr im Geborgenen Land, auch in keinem der Zwergenreiche. Oder in dem, was davon übrig geblieben war. Seine Feste hatte zur Verwunderung bei den Albae geführt, doch er hatte ihnen erklärt, dass der Zehnt Begehrlichkeiten weckte und man ihn davor schützen musste. Dagegen ließ sich nichts einwenden.
Als der Tross nach Osten schwenkte und ein Wäldchen umrundet hatte, kam die Befestigung in Sicht, die sich an ihrer höchsten Stelle stolze dreißig Schritt emporstemmte und jedem Reisenden signalisierte, wo der Herr dieses Landstrichs lebte. Und derjenige Reisende, welcher sich ein wenig mit Zwergenrunen auskannte, wusste darüber hinaus, dass der Burgherr alle Kinder des Schmieds hasste, bis auf die vom Stamm des Dritten: Weithin sichtbar verhießen die Schriftzeichen am großen Bergfried den übrigen Zwergen Tod und Verderben, und in den Mauern prangten eingemeißelte Schmähungen. Was für die Unbedarften nach bloßem Schmuck aussah, würde ein Kind des Schmieds zur Weißglut reizen und zum sofortigen Angriff veranlassen. Hargorin grinste breit, als er sein Zuhause betrachtete.
Aus den Schloten der Häuser und Hütten rund um Vraccastrotz quollen Rauchfahnen. Die menschlichen Bewohner Morgentals hatten sich vor der Kälte in ihre warmen vier Wände zurückgezogen. Er ließ sie gewähren. Im Augenblick gab es keine Frondienste für ihn zu erledigen.
Das Reißen von Stoff unmittelbar in seinem Rücken, das er deutlich trotz der Fahrtgeräusche und des Donnerns der Hufe vernahm, weckte seine Aufmerksamkeit. Hargorin drehte den Kopf und sah nach dem Sack, der durch das Gewicht seiner Ladung gerissen war. Er wollte nicht, dass auch nur eine Münze zu Boden fiel. Alles, was vom Zehnten fehlte, musste er aus eigenem Säckel begleichen, und das ging gegen seine zwergische Natur.
Umso überraschter war er, als eine Armbrustbolzenspitze aus dem Sack ragte, der sich genau in seinem Rücken befand.
»Schau wieder nach vorn und bieg auf den Pfad zum Wald ein«, befahl eine Frauenstimme.
Hargorin dachte gar nicht daran, ansatzlos warf er sich nach rechts. Es sirrte beinahe gleichzeitig, und er spürte einen dumpfen Schlag in der linken Schulter. Erst ein, zwei Lidschläge später nahm er den Schmerz wahr.
Der Zwerg kauerte nun am äußeren Rahmen des Wagens und war damit sicher vor weiteren Schüssen. Die Pferde hatten sich durch seine schnellen Bewegungen und die Geräusche erschrocken, die Zügel schleiften durch den Schnee, und sie und trabten mit lautem Wiehern los.
Rücksichtslos drängten sie sich durch die Ponys vor ihnen, liefen Kurven und brachten den Wagen zum Schlingern. Dabei änderten sie die Richtung und hielten geradewegs auf das Wäldchen zu, wie es die Frau von Hargorin verlangt hatte.
Die Dritten, die unmittelbar neben ihm ritten, sahen ihn alarmiert an und gaben ihren Ponys die Sporen, um mit den durchgegangenen Pferden überhaupt mithalten zu können. Der blutige Schaft, der aus Hargorins Rücken ragte, zeigte ihnen, dass es sich bei seinem Sprung vom Bock nicht um ein bloßes Missgeschick handelte. »Aufrührer!«, rief er und hangelte sich seitlich am Wagen entlang. »Mindestens einer.« Trotz seiner Schmerzen schwang er sich auf die hintere Ladefläche, landete sicher auf einer Truhe und zog sein langstieliges Beil; gleich darauf trieb er es mit Wucht schräg in den Sack, in dem er die Frau vermutete.
Zwei Zwerge versuchten in der Zwischenzeit, sich mit ihren Ponys vor die Pferde zu setzen und das Geschirr zu greifen, aber die Geschwindigkeit war zu hoch. Einer nach dem anderen aus der Schwarzen Schwadron fiel zurück; unterdessen rumpelte das Gefährt weiter auf das Wäldchen zu. Hargorin war allein.
Die Beilklinge hackte in etwas Hartes, und ein gedämpftes Stöhnen war zu hören. Der Sack kippte nach vorn; umgeben von Silbermünzen und Holztrümmern, fiel eine junge blonde Frau auf den Boden. Der Zwerg mutmaßte, dass sie mit dem Holz die Füllung des Sacks nachgeahmt und einen Hohlraum für die Schützin geschaffen hatten. Hargorin erkannte sie sofort. »Mallenia«, schnaufte er zufrieden. »Also haben sich die Schwarzaugen nicht umsonst nach Hangenturm begeben. Du warst dort!« Er drosch zu, doch sie wälzte sich seitwärts. Die Klinge fuhr dicht neben ihr nieder. Mallenia, Nachfahrin des berühmten Helden Prinz Mallen von Idoslän, trat nach dem Dritten und traf ihn gegen die Brust. »Ich werde die Albae eines Umlaufs töten, wie ich dich heute endlich töte, Hargorin!«, rief sie. »Freiheit für Idoslän, Gauragar und Urgon!«
Der Zwerg stürzte rücklings auf einen weiteren Sack, der Armbrustbolzen bohrte sich tiefer in sein Fleisch und drückte sich vorne durch; das Kettenhemd beulte sich aus. Er spürte deutlich, dass etwas im Gelenk durchtrennt worden war; aufstöhnend ließ er den Arm herabhängen.
»Die Dritten und die Albae haben keine Gnade von mir zu erwarten«, sagte sie aufgebracht. »Zu viel Leid kam durch euch.«
Die Kiste, auf der er eben noch gestanden hatte, klappte auf, und ein Vermummter kam in einer Explosion aus Münzen zum Vorschein. Er hielt einen Säbel in der Hand und legte die Schneide an den Hals des Dritten. »Bleib!«, befahl er.
»Feigling!«, spie Hargorin aus. »Habe wenigstens den Mut und zeige dein Gesicht wie die Mörderin hier.« »Wer gegen Unterdrückung kämpft und Besatzer tötet, vollbringt ein gutes Werk, Zwergenabschaum! Ihr seid die Mörder!« Mallenia sah durch den aufgewirbelten Schnee zur Schwarzen Schwadron, welche die Verfolgung noch lange nicht aufgegeben hatte. Die Dritten gaben niemals auf, und schon gar nicht die Eliteeinheit der Begehrer. Diese Zwerge waren im Gegensatz zu den übrigen Stämmen hervorragende Reiter, die ihre Künste über mehr als einhundert Zyklen hinweg vervollkommnet hatten. Da die sonstigen Kinder des Schmieds lieber auf Ponys verzichteten, besaßen die Begehrer von daher eine Überlegenheit, die sich vor allem auf den Schlachtfeldern erwiesen hatte. Schmerzlich erwiesen, sowohl für die Menschen, gegen welche die Dritten geritten waren, als auch für die Zwerge.
»Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte sie zu ihrem Begleiter und öffnete eine weitere Truhe, aus der ebenfalls ein maskierter Mann stieg. Das Schloss hatte sich verhakt, weswegen er nicht aus eigener Kraft aus seinem Versteck hatte steigen können.
Die Pferde preschten auf den schmalen Waldweg, dichte Schneewolken stoben hinter ihnen auf. Kaum waren sie in den Schutz der Bäume gelangt, als gleich sieben Stämme hinter ihnen mit lautem Krachen auf den Pfad stürzten und ein Weiterkommen für die angaloppierenden Zwerge unmöglich machte. Sie müssten durch dichtes Unterholz, und das würde sie aufhalten. Es war alles vorbereitet worden - und es funktionierte. Der eine Mann stieg aus seiner Kiste und lief seiltänzergleich zum Bock, fischte nach den Zügeln und übernahm das Fahren, der andere hielt Hargorin noch immer seine Waffe an die Kehle.
Mallenia stieg zum Dritten und setzte sich auf den Sack neben ihn. Ihre Augen musterten das faltige Gesicht ihres Gefangenen; dabei langte sie neben sich und zog eine Decke heran, die sie sich um die Schultern legte.
Mallenia trug dünne, dunkle Kleidung anstelle einer schützenden Panzerung, was ein ausgesprochenes Wagnis war, wenn man ihre Mission bedachte, doch es war nicht anders gegangen, damit sie überhaupt in den Sack gepasst hatte. Ihre langen, blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten. Die schwarzen Schnürstiefel gingen ihr bis an die Knie, zwei Dolchgriffe ragten aus den Schäften. In ihrer anderen Hand hielt sie eine schmale Handarmbrust, und sie zielte wieder auf Hargorin. »Und jetzt?«, fragte der Dritte abfällig.
»Werden wir den Zehnten in Sicherheit bringen und bei Gelegenheit an Idosläns Bürger verteilen, denen er gehört. Und nicht dir oder deinen Herren«, erwiderte sie wütend. »Ihr seid nichts weiter als Besatzer! Euch gebührt der Tod und keine einzige Münze!« Hargorin schien etwas sagen zu wollen, doch er überlegte es sich anders. Er sah kurz zu dem Mann mit dem Säbel, dann senkte er seine Stimme. »Was immer du tust, denke an deine Familie«, flüsterte er ihr plötzlich zu.