Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Gauragar, nahe Dsön Baisur, 6492. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
Wo immer die Gruppe auf ihren Pferden vorbeigaloppierte, die Aufständischen gegen die unrechtmäßigen Herrscher waren schon vor ihnen da gewesen. Mal sahen sie Schlösser oder Herrensitze brennen, mal aufgeknüpfte Männer- und Frauenleichen an den Wegkreuzungen oder entlang einer Straße baumeln. Man hatte sie entkleidet und wohl zuerst gefoltert, ehe man sie dem qualvollen Erstickungstod überließ; einige trugen Schilder an den Füßen, auf denen ihre Verbrechen aufgelistet waren.
»Die Gerichte der einfachen Leute arbeiten schnell in Gauragar«, kommentierte Rodario die Anblicke. »Ich kann es ihnen nicht verdenken«, sagte Mallenia. »So wird es nicht nur hier aussehen«, mutmaßte Coira. »Dieser Flächenbrand aus des Volkes Zorn wird auch in Idoslän und in meinem Königreich lodern.«
Tungdil bedachte die Kadaver mit keinem Blick. Er fand es anscheinend nicht einmal erschreckend. »Der Flächenbrand ist reinigend, aber er darf nicht außer Kontrolle geraten und in Chaos übergehen. Die Herrschaftszustände müssen schnell wiederhergestellt werden.« »Wir sind ja bald so weit«, rief Ingrimmsch und lachte. »Lot-Ionan fangen, Schwarze Schlucht einebnen, fertig. Ihr werdet sehen, wir sind in sechzig Umläufen durch. Spätestens.« Slin und Balyndar grinsten, die Menschen lachten; die Zhadär waren schweigsam wie stets.
Die Pferde, die sie austauschten, sobald sie müde wurden, jagten dahin, und auch wenn es bei den Zwergen nicht elegant aussah, wie sie auf den Rücken hin und her geschüttelt wurden, kamen sie rascher vorwärts als auf den Ponys. Dafür schworen sie alle - bis auf Tungdil -, niemals mehr auf einem Pferd zu reiten, sobald ihre Mission abgeschlossen war.
Schon an der Umgebung bemerkten sie, dass sie sich in Dsön Balsur befanden, dem ältesten Stammreich der Albae. Von hier aus waren die Albae unter anderem nach Süden aufgebrochen.
Sie passierten widerliche Skulpturen aus Knochen, abgestorbenen Pflanzen und andere Gegenständen, die vom Anblick her durchaus eine Faszination besaßen, doch das Morbide schreckte die Zwerge und Menschen ab. Dennoch war es unmöglich, den Albae ihre Perfektion abzusprechen.
Natürlich war es Tungdil, der die Rauchwolke vor ihnen als Erster entdeckte. »Dsön brennt«, verkündete er und zeigte nach Norden.
Jetzt sahen sie es auch.
»Ich hatte es für eine Gewitterwolke gehalten«, sagte Rodario.
»Lot-Ionan ist schon fleißig am Vernichten.« Ingrimmsch sah den Krater von Weitem, in dem Dsön lag. »Wie viele von den Schwarzaugen er wohl ausgelöscht hat?« »Am besten alle.« Rodario fühlte Angst in sich aufsteigen. Niemand wusste genau, wie sie in Kürze gegen den Magus vorgehen würden. Es gab keinen Plan, nur eine Idee: Tungdil und Balyndar würden ihn ablenken, Coira sollte ihn bezwingen. Der Rest der Gruppe würde sich bereithalten, um einzugreifen. Der Rest, das waren er und Mallenia. Die Zhadär unterstanden und gehorchten Tungdil, vermutlich würden sie den Magus sogar angreifen. Sie fürchteten den Tod nicht.
»Was denkst du, was wir tun dürfen?«, fragte er die Ido, die neben ihm ritt und mindestens ebenso nachdenklich wirkte wie er.
»Das hängt davon ab, wie sehr Vraccas und Samusin mit uns sind«, gab sie zurück. Der Wind peitschte ihr Haar, obwohl sie es mit einem Band zusammengefasst hatte. »Unser Anführer hat unszur Untätigkeit verdammt, auch wenn es mir schwerfällt, ihm recht zu geben: Wir beide, Rodario, sind in einem Kampf gegen einen Magus von der Klasse eines Lot-Ionan so ungeeignet wie ein Zweihandschwert gegen eine Fliege.« Der Mann verzog den Mund. »Es hat nicht den Anschein, als hätte Aiphatön ihn besiegt.«
Mallenia blickte zum Kraterrand, von dem sie sich geschätzte anderthalb Meilen entfernt befanden. Niemand hielt sie auf, es zeigten sich keine Albae. »Nein, anscheinend nicht. Oder er ist gegen den Magus gefallen.«
Tungdil deutete nach vorn. »Wir reiten zuerst an den Rand und sehen, was in Dsön los ist«, rief er der restlichen Gruppe zu.
Sie fielen in einen leichten Trab und brachten die Pferde an der senkrecht nach unten verlaufenden Kante zum Stehen.
Ingrimmsch glaubte, das alles schon einmal gesehen zu haben. In Dsön Bharä. Allerdings wich der Aufbau Dsöns eindeutig von der weiter im Norden gelegenen Stadt der Albae ab. Der Turm aus Gebein, der sich einst auf dem Hügel erhoben hatte, war durch einen Turm aus düsterem Basalt ausgetauscht worden. An ihm funkelte und blinkte es; Bahnen aus Gold, Silber und anderen Edelmetallen im Gestein erweckten den Anschein, als seien es Adern, die das Böse aus dem schattigen Boden saugten und das Gebäude damit versorgten.
Und es war das einzige Gebäude, das inmitten des Kraters noch stand. »Bei Vraccas! Da hat jemand ganze Arbeit geleistet!« Ingrimmsch sah staunend auf die brennenden Häuser der Albae hinab. Sie loderten in grellweißen Flammen, und diese Lohen machten sich ebenso über den Boden her wie über alles, was sich im Krater befand.
Er zog sein Fernrohr aus der Packtasche, um das Inferno näher betrachten zu können. »Es ist unmöglich, einen Fuß da hineinzusetzen«, sagte er laut, damit auch diejenigen, welche keine Sehhilfe besaßen, wussten, wie schlimm es um die Stadt stand. »Die Flammen lodern mehrere Schritte hoch, der Boden ist bedeckt mit geschmolzenem, brodelndem Metall. Es wird Umläufe dauern, bis wir hinabsteigen können, ohne wie die Hähnchen gegrillt zu werden.«
Der Wind drehte und trieb die Rauchwolken zu ihnen - dochbevor ihnen die Schwaden gänzlich die Sicht raubten, erkannte Ingrimmsch auf dem Plateau vor dem Turm eine Gestalt in einer weiß-schwarzen Robe, die einen Stab mit einem in der Spitze eingefassten Onyx in der Linken hielt. »Lot-Ionan!«, rief er und deutete aufgeregt mit dem rechten Arm zum Plateau.
Er sah, wie der Magus einen schwarzen Blitz aus dem Edelstein schießen und in einen Alb schlagen ließ, der ihm aus dem Turm entgegengestürmt kam. Die Magie traf ihn in den Hals, der regelrecht zerplatzte und den Kopf zwei Schritt in die Höhe fliegen ließ, ehe er auf die dunklen Stufen stürzte. Zuckend fiel der Torso nieder.
»Hast du das gesehen, Gelehrter?«, fragte Ingrimmsch mit einem mulmigen Gefühl. »Was denn?«, erkundigte sich Rodario alarmiert.
»Lot-Ionan hat einem Alb den Kopf abgerissen, mit einem Zauber«, sagte Tungdil leichthin.
Ingrimmsch blickte wieder über die Flammen. »Er mag ja vielleicht fliegen können, um dem Feuer zu entkommen, doch wie kriegen wir ihn dann in unsere Finger?« Tungdil sah zu Coira, die ihm wiederum zunickte. »Balyndar kommt mit uns. Ihr wartet hier«, ordnete er an. »Magie hat die Lohen geschaffen, Magie kann sie bändigen.« Er lenkte das Pferd auf den Serpentinenweg, der Fünfte und die Maga folgten unverzüglich. Alle wussten, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie sahen den dreien durch treibende Rauchwolken zu, wie sie Biegung um Biegung nahmen, um in den Talkessel zu gelangen und zum Turm zu reiten.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Slin.
»Mir auch nicht«, sagte Rodario, der sich Sorgen um die junge Frau machte. »Hat jemand einen Vorschlag, was wir gegen die Warterei tun könnten?«
Mallenia grinste, öffnete den Mund zu einem Vorschlag und musste husten. Blut sickerte über ihre Lippen, und sie kippte starr aus dem Sattel; hart schlug sie auf den Boden. Aus ihrem Rücken ragte der schwarze Schaft eines Albpfeils!