Mallenia durchfuhr ein Schrecken. Er klang nicht mehr eisig oder überheblich, sondern aufrichtig. Ohne Zweifel eine List des Dritten, um sie einzuschüchtern und zu verwirren. Sie lachte absichtlich laut, um ihm zu zeigen, dass sie ihm nicht glaubte. Er kniff die Augen zusammen. »Du hast den Tod von Ratsherrin Küferstein in deinem Sack nicht mitbekommen?«
Sie schüttelte den Kopf, ihre Finger klammerten sich an den Griff der Armbrust. »Ich musste sie auf Geheiß der Albae töten, und sie wird nicht das einzige Opfer unter deinen Verwandten bleiben. Die Albae suchen sie.«
»Albae?«
»Und zwar nicht irgendwelche. Die Dsön Aklän sind nach Hangenturm gekommen, um sie auszulöschen. Drillinge: dreifach böse und dreifach grausam.« Hargorins braune Augen sahen sie eindringlich an. »Ich dürfte es dir nicht verraten, aber sie töten sämtliche Menschen, die auch nur im Entferntesten der Linie von Prinz Mallen entspringen. Es spielt keine Rolle, wie lange sie dazu reisen müssen und wohin. Doch sie geben vor, dass deine Taten, deine Aufrührerei der Grund für das Abschlachten sei. Damit du den Rückhalt beim Volk von Idoslän, in Urgon und Gauragar verlierst. Dein Anliegen wird scheitern, und die Länder werden niemals die Freiheit erlangen. Nicht, solange es die Albae gibt.«
Mallenias Sichtfeld zog sich zusammen, sie sah vor Schreck nur noch Hargorins Gesicht vor sich. Sie hatte in ihrem Versteck wirklich nichts vom Tod ihrer Verwandten mitbekommen. Mehr als undeutliches Gemurmel war nicht bis zu ihr durchgedrungen, und durch den Schlitz im Sack hatte sie nichts gesehen. Sie schluckte. »Du sprichst nicht die Wahrheit«, sagte sie mit unsicherer Stimme und trat ihn gegen die Schulter, wo der Bolzen steckte. »Ihr Dritten seid alle Lügner!«
Hargorin biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen, dann fluchte er hart. »Zu Tion mit dir, Weib! Dann glaube mir nicht, es ist mir auch gleich.«
»Gib gut auf ihn acht«, wies sie den Mann mit dem Säbel an, dann ging sie nach vorne. »Wie weit ist es noch?«
»Wir haben den Wald gleich verlassen, und dahinter warten unsere Boten«, erklärte er und zeigte auf den hellen Punkt, der den Ausgang zwischen den dunklen Bäumen markierte. Davor bewegten sich Gestalten hin und her.
»Ausgezeichnet«, murmelte sie und klopfte ihm auf die Schulter. Doch sie konnte ihren Sieg über die Begehrer nicht genießen, die Worte von Hargorin waren bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen. Noch wusste Mallenia nicht, was sie unternehmen sollte. Zurückreiten? Oder die Männer begleiten?
Der Wagen verließ gleich darauf den Schutz des Waldes, und der Fahrer brachte ihn vor zwei Dutzend Reitern zum Stehen.
Sie jubelten ihnen zu, riefen Mallenias Namen und machten sich sofort ans Umladen der Schätze. Die Begehrer würden vierundzwanzig verschiedenen Spuren gleichzeitig folgen müssen, um die Münzen und die Barren wiederzuerlangen. Mit kurzbeinigen Ponys ein Ding der Unmöglichkeit, trotz ihrer Reitkunst:
Jemand reichte der groß gewachsenen Frau ihre leichte Plattenrüstung mit dem eingravierten Wappen ihres Ahnen, Prinz Mallen von Ido, und sie legte den Schutz an. Ihre Gedanken wanderten beim Anblick des Signums in die Vergangenheit zu ihrem Vorfahren, der sich gegen Nödonn gestellt hatte, der gegen die Eoil geritten war und sein Leben mehr als einmal für das Geborgene Land gewagt hatte. Ein wahrer Streiter für das Gute und die Gerechtigkeit, dessen Erbe sie fortführte, bis die Menschen von den Albae und ihren Verbündeten befreit waren. Ihre Kurzschwerter hängte sie sich an den Waffengurt um die Hüfte, warf sich einen weißen Kapuzenmantel über und stieg auf ihren Schimmel.
Mallenia ritt neben den Wagen, auf dem der Dritte immer noch bewacht wurde. Um seine Schulter hatte sich eine Blutlache gebildet, das Rot tropfte durch einen Spalt in den Brettern hinunter in den Schnee.
»Was tun wir mit ihm?«, wollte der Mann wissen.
Sie sah den Zwerg lange an. »Töten. Wer mit den Albae gemeinsame Sache macht, verdient nichts anderes«, sagte sie bedächtig und gab dem Pferd die Sporen, um nach Hangenturm zurückzukehren. Sie wollte sehen, ob sie ihren Verwandten noch beistehen konnte, und betete zu den Göttern, dass sie nicht zu spät kam. »Wir treffen uns in vier Umläufen am gewohnten Ort«, rief sie und verschwand hinter einem Ausläufer des Wäldchens. Der Zehnt war verteilt, die Boten waren überwiegend aufgebrochen. Vier von ihnen verstauten die letzten Säcke an ihren Sätteln, als das leise, schnelle Trampeln zu hören war. Die Schwarze Schwadron näherte sich.
»Weg hier!« Hargorins Bewacher sah zu den Männern. »Ich nehme mir eines von den Kutschpferden...« Er bekam einen Tritt gegen den Oberkörper, sodass er zurückfederte und gegen den Kistendeckel prallte. In der Rückwärtsbewegung zog er die Säbelklinge jedoch von rechts nach links, um dem Zwerg die Kehle aufzuschlitzen, und spürte Widerstand...
... der Zwerg hatte die Waffe mit der Hand aufgehalten! Blut quoll aus dem Schnitt und lief ihm in den Bart, aber er grinste böse und die Augen funkelten.
Hargorin trat gegen den Korpus der Kiste und brachte sie zum Kippeln. Während sein Wächter noch mit dem Gleichgewicht rang, sprang er auf und drosch dem Mann die blutige Faust gegen den Unterkiefer; ächzend sackte er zusammen, der Deckel klappte über ihm zu.
»Ha!« Der Zwerg packte sein langstieliges Beil, rannte über den Wagen und nahm Anlauf zu einem gewaltigen Satz, der ihn genau auf einen der Boten zutrug. Die Klingenspitze bohrte sich seitlich in den Hals des Mannes; röchelnd stürzte er in den Schnee, während Hargorin seinen Platz im Sattel einnahm. Ohne lange zu warten, lenkte er das Pferd gegen den nächsten Gegner und drosch mit dem Beil zu. Der Mann konnte den brachialen Hieb nicht parieren, sein erhobener Schwertarm wurde zwischen Ellbogen und Handgelenk durchtrennt. Die schwere Schneide setzte ihren Weg fort, und tödlich in den Nacken getroffen, sackte er in den Schnee, während sein Blut weithin aus der Wunde sprühte, als wolle es den Namen des Sterbenden in das Weiß schreiben.
Die verbliebenen zwei Männer trieben ihre Pferde an, um dem Feind zu entkommen. Hargorin nahm Maß und schleuderte sein Beil mit einem wilden Schrei. Surrend schoss die Waffe durch die Luft und durchtrennte das Rückgrat des rechten Boten bei vollem Galopp. Ohne einen Laut stürzte er und überschlug sich mehrmals.
»Du entkommst mir auch nicht!«, versprach der Zwerg seinem letzten Gegner und jagte sein Pferd hinter ihm her.
Auf Höhe des Toten, der sein Beil im Rücken stecken hatte, neigte er sich weit zur Seite und griff den Stiel. Ein kurzer Ruck, und er hatte seine Waffe wieder. Lachend schlug er die flache Seite gegen den Hinterleib seines Reittiers, um es anzuspornen; wiehernd preschte es vorwärts.
Hargorin hatte den Boten eingeholt, der in seiner Not sein Pferd Haken schlagen ließ, doch es gelang ihm nicht, den zornig blickenden Zwerg abzuschütteln. Nach und nach schnitt er die Säcke mit den Münzen ab, um das Gewicht zu verringern. Es half alles nichts.
Hargorin kam nach einer gekonnten Täuschung und einem schnellen Schwenk nach rechts auf die gleiche Höhe des Mannes und verpasste ihm einen Schlag gegen den Oberkörper, der Zügel, Rüstung und Kleidung gleichermaßen durchtrennte. Aufschreiend kippte der Bote rückwärts aus dem Sattel und prallte auf die verschneite Erde.
Der Dritte brachte sein Pferd brutal zum Stehen und wendete es. Er sah, dass die Schwarze Schwadron sowohl durch den Wald als auch rechts und links um das Wäldchen geritten kam. Seine verwundete Schulter klopfte schmerzhaft, der tiefe Schnitt in seiner Hand brannte, doch es kümmerte ihn nicht, solange sich die Finger bewegen ließen. Sehnen und Knochen waren heil geblieben.
Hargorin ließ das schnaubende Pferd antraben, genau auf den Mann zu, der sich schwankend erhob und die Arme hob. Er wollte aufgeben. »Was hat denn das zu bedeuten?«, rief der Zwerg missmutig. »Du kämpfst nicht um dein Leben?« »Ich möchte verhandeln«, ächzte er.