»Es ging einfach nur darum, vom wahren Täter abzulenken.«
»Dann hätte er den Stein wegwerfen können.« Seine Augen verfolgten den Flug des getrübten Diamanten. »Es ging um Zwietracht im Verlauf der Mission.« »Aber er konnte nicht ahnen, dass die Gruppe sich aufspaltet«, führte Mallenia den Gedanken fort. »Somit hat er seine Ziele teilweise erfüllt.«
Rodario steckte den Stein in seinen Handschuh und wickelte eine Schnur darum, dass er nicht herausfiel. »Angenommen, er stammt aus Tungdils Rüstung, welchen Zweck hatte er? Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«
»Er war durch eine Blende verborgen... oder er saß auf der Innenseite.« »Ist es nicht wichtiger, dass Tungdil seinen Diamanten erhält?« Rodario wollte in die Kutsche springen.
Mallenia hielt ihn fest. »Damit sind wir zu langsam. Wir müssen reiten.« »Wir?« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich reite, Mallenia. Du bleibst oder kommst mit der Kutsche nach.«
Sie runzelte die Stirn. »Du möchtest nicht vor den Augen der Städter von einer Frau niedergeschlagen werden, Liebster, oder?«
Rodario schnaufte, um seinen Unmut zu zeigen. »Die körperliche Unterlegenheit seines Gefährten auszunutzen, ist keine gute Grundlage für eine Beziehung, meine Teure.« »Das tue ich auch nicht. Es war eine Frage, mehr nicht.« Mallenia grinste und rief nach dem Wirt, der ihnen zwei gute Pferde besorgen sollte.
Ungeduldig warteten sie im Schankraum bei Wasser, Brot und verschiedenen Sorten von Schinken.
»Denkst du«, Rodario schob sich eine dicke Scheibe in den Mund, »dass wir für den Ausgang der Schlacht verantwortlich sein werden?« Er seufzte. »Oh, das wird sich in einem Schauspiel hervorragend machen. Mein Ahn wäre sehr stolz auf mich! Ich scheine in seine Fußstapfen zu treten, was die Wichtigkeit für das Geborgene Land angeht.« Er kaute und langte nach der zweiten Scheibe. »Und dann ist da noch mein Einsatz als Poet der Freiheit.« Er wippte mit dem Stuhl und schaute zur Decke. »Oh, ich könnte mir sogar einen Posten als König verdient haben!« »Möchtest du über Idoslän herrschen?«, neckte sie ihn. »Dann müsstest du gegen mich bestehen, und das kannst du nicht.« Sie pochte auf den Tisch. »Aber Urgons Thron ist leer. Bewirb dich.«
Rodario lachte. »Das wäre doch mal ein Aufstieg. Das wäre so unglaublich...« »... dass du fortan der neue Rodario der Unglaubliche wärst«, vollendete sie und stand auf. Der Wirt winkte sie zu sich. »Ich glaube es erst, wenn ich es sehe.« Sie gingen hinaus, bezahlten den Mann und schwangen sich in die Sättel der beiden Fuchsbraunen.
»Weißt du, was meine erste Handlung als König von Urgon wäre?« Er prüfte mit kurzem Druck, ob der Diamant sicher an seinem Handgelenk saß.
»Nein.«
»Idoslän unterwerfen und dich zu meiner persönlichen Sklavin machen.« Rodario grinste und ritt los.
»Männer!« Mallenia lachte und drückte ihrem Tier die Fersen in die Flanken.
XXXII
Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, 6492. Sonnenzyklus, Frühsommer.
Ingrimmsch hätte zu gern den Angriff befohlen, doch es stand ihm nicht zu, auchwenn er das Duell zwischen Famulus und Meister beendet sah. Slins Eingreifen hatte es gegen die Regeln entschieden, doch er war dem Vierten deswegen nicht böse. Tungdil hatte Blutdürster erreicht und zog ihn mit beiden Händen aus dem Schlamm, da wurden die Krieger des Zwerges in der Vraccasium-Rüstung plötzlich unsichtbar! »Heere, greift an«, befahl der Einäugige. »Greift an und tötet sie!«
Das Zwergenheer stürmte vorweg und eilte dorthin, wo sich eben noch die Gegner befunden hatten. Keiner tat es mit einem guten Gefühl, weil sie jederzeit von unwahrnehmbaren Klingen getroffen werden konnten.
Auch die Ubariu, die Menschen und Untergründigen rannten herbei.
Lot-Ionan sandte dem Meister weiße Energieblitze aus seinen Fingern, doch der Schwerverletzte hob die rechte Hand und fing die Strahlen mit dem im Handschuh eingelassenen Rauchdiamanten ab; der Edelstein glitzerte hell, mehr geschah nicht. Ingrimmsch sah, dass der Magus merklich blasser wurde und etwas zu Coira rief. Verflucht, es wird sogar hart für ihn? Sie nickte zögerlich und richtete ihren linken Arm auf den Feind, Lot-Ionan tat das Gleiche. Anscheinend wollen sie ihre Kräfte vereinen. Die ersten verzauberten Feinde hatten die Reihen der Streitmächte erreicht, wie man an der Wirkung ihres Angriffs sah. Jetzt offenbarte sich die Schrecklichkeit der sensengleichen Waffen, die Ingrimmsch zuvor bei den riesigen Kriegern gesehen hatte: Sie mähten sich regelrecht durch die Soldaten, die Klingen durchtrennten alles und schufen Todeshalbkreis um Todeshalbkreis, in denen jedermann zerteilt auf den Boden fiel. Wie Schnitter marschierten sie quer durch die Linien, als seien die Krieger Korn halme. Wer nicht von den Schneiden, sondern nur von einem dornengespickten Schaft getroffen wurde, erlitt schwere Verletzungen und flog schrittweit umher, ehe er in den eigenen Reihen einschlug. Die Feinde selbst blieben unsichtbar.
Die Wirkung auf die Heere blieb nicht aus.
Der Vormarsch geriet auf allen vier Seiten ins Stocken, und nicht wenige Soldaten wandten sich in ihrer Furcht vor dem ankündigenden Surren der Sensen zur Flucht. Die anderen einhundert Gegner, die mit Äxten und Schwertern bewaffnet waren, hatten sich dem Anschein nach in kleineren Gruppen gegen die Heere geworfen und tobten sich darin aus. Auch sie schufen Breschen, und ihre Schläge überlebte keiner der Getroffenen.
Wie soll man denn gegen diese Feinde kämpfen? Ingrimmsch sah, dass die Soldaten neben Coira unvermittelt davongeschleudert wurden. Heilige Esse! Einer der unsichtbaren Streiter hat sich den Weg zur Maga gebahnt! Lot-Ionan war in seinen Zauber vertieft, während sie mit einem Schrei die Vorbereitung abbrach und zur Seite sprang. Ingrimmsch rannte zu Coira und überlegte, wie er seinen Feind sichtbar machen konnte.
Die Schlacht tobte um ihn herum, die Heere setzten sich gegen die heimtückischen Feinde zur Wehr und töteten auch einige von ihnen. Aber sie waren schwer zu erkennen und noch schwerer zu besiegen. Sie vertrugen unglaublich viele Treffer, ehe sie zusammenbrachen; dazu kamen die dicken Rüstungen und Schilde, die zusätzlichen Schutz verliehen.
Ingrimmsch hatte Tungdil aus den Augen verloren, weil er die Maga retten wollte. Coira besaß zwar die Macht, sich zu verteidigen, aber sie wich einfach nur zurück und schrie voller Todesangst. Ihr Gemüt war nicht das einer Kriegerin.
Lot-Ionan hatte seinen magischen Angriff unterdessen gegen den Meister geschleudert - und die Strahlen prallten gegen eine neuerliche Barriere! Sie leckten um die hellrote Glocke und schlossen sie vollständig ein, um schließlich zu erlöschen.
»Verdammte Närrin! Seht, was Ihr mit Eurem Zaudern angerichtet habt!« Der Magus fluchte und blickte zu Coira, die sich mit dem Fuß im Saum ihres Kleides verhedderte und rücklings in den Morast fiel.
Damit schien sie der Attacke mit der überlangen Sense durch Fügung entgangen zu sein, denn um sie herum fielen Zwerge verletzt und verstümmelt zu Boden. Blut und Gliedmaßen flogen umher.
Ingrimmsch hatte sie fast erreicht und wollte seinen Augen nicht trauen: Lot-Ionan wandte sich einfach ab, anstatt der Frau zu helfen. Er hielt auf den magischen Schild zu, hinter dem sich der Meister den Armbrustbolzen aus dem Kopf zog. Die Wunde schloss sich, sobald die Spitze den Schädel verlassen hatte, und er stellte sich auf die Beine, als sei nichts geschehen. Mit einfachen Waffen war er nicht zu besiegen.
»Vraccas, wir brauchen deinen Beistand!« Ingrimmsch sah weitere Zwerge zerteilt in den Schlamm sinken, Blut und Matsch spritzten auf. Er starrte auf den Boden, um die Fußabdrücke des unsichtbaren Kriegers auszumachen und - tatsächlich! Es waren gewaltige Sohlen.