»Kannst du mir das übel nehmen?«, lachte Ingrimmsch und langte nach seinem Bierhumpen. »Ich habe dich zweihundertfünfzig Zyklen nicht zu Gesicht bekommen!« »Und jetzt willst du alles an einem einzigen Abend nachholen, indem du mir mit Blicken noch mehr Falten in mein Gesicht gräbst?«, hielt Tungdil verschmitzt dagegen. Er nahm seinen Becher und wollte mit Ingrimmsch anstoßen - dabei fiel sein Blick auf den Inhalt. »Ist das Wasser?« Fast angewidert schober den Becher von sich. »Gibt es denn keinen Branntwein mehr? Saufen die Krieger der Festung so sehr? Und warum habe ich kein schönes Schwarzbier so wie du?« Boindil setzte den Humpen überrascht ab. »Das letzte Mal warst du mit dem Alkohol vorsichtiger.«
»Vorsichtiger?« Tungdil wirkte verwirrt, dann hellte sich seine Miene auf. »Ach ja, jetzt verstehe ich, was du meinst.« Er packte den Humpen seines Freundes, nahm einen langen Zug und setzte nicht eher ab, bis das Bier bis auf den letzten Tropfen durch seine Kehle gelaufen war. Hart stellte er den Humpen ab, wischte sich den Schaum vom Bart und rülpste laut. »Das hat sich gegeben.« Ein breites Grinsen entstand auf seinem Gesicht.
Boindil betrachtete ihn, blinzelte und stieß ein schallendes Gelächter aus. »So gefällst du mir!« Er gluckste. »Wenn wir gerade dabei sind: Was sagst du zu meinen Töchtern und Söhnen? Goda hat sie dir doch vorhin vorgestellt.«
»Ganz ihr Vater. Und das sollte ein Lob sein«, gab Tungdil flachsend zurück. »Ernsthaft: Du kannst stolz auf sie sein. Verzeih, dass ich mir die Namen nicht merken konnte, aber ein Sohn und eine Tochter scheinen magisch begabt zu sein, wie Goda meinte. Das ist doch eine Besonderheit! Die zwei Burschen mit den kräftigen Armen sehen aus wie stattliche Krieger. Sie nutzen einen Kampfstil aus Ubariu-Taktik und Zwergenweise, das macht sie einzigartig.« Er sah unangenehm berührt aus. »Verzeih, dass ich dir das so sage, aber die drei anderen... schlagen... aus der Art. Völlig aus der Art.«
Ingrimmsch fühlte sich vor den Kopf gestoßen. »Wie meinst du das?«
Tungdil suchte scheinbar nach den passenden Worten. »Es tut mir leid, das sagen zu müssen, doch sie sind alle«, er zog besorgt die Augenbrauen zusammen, »alle bessere Handwerker als du! Ihre Steinmetzarbeiten sind großartig.« Dann platzte ein schelmisches Lachen aus ihm heraus.
Erleichtert stimmte Boindil ein. »Ja, treib ruhig deine Spaße.« Er sah ihn glücklich an. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über deine Rückkehr bin. Ich hätte fast nicht geglaubt, dass du es bist. Du sahst so... düster und finster aus, als du in deiner Rüstung an der Spitze der Ungeheuer standest. Als wärst du... einer von ihnen.« Gespannt wartete er, was sein Freund darauf erwiderte. Tungdil senkte den Blick, mit der linken Hand berührte er die goldene Augenklappe. »Es ist vieles geschehen, Ingrimmsch«, antwortete er mit tiefer, veränderter Stimme. Die Heiterkeit war schlagartig verschwunden, und die Schatten kehrten auf sein Gesicht zurück. »Vieles ist mir widerfahren, was mich verändert hat.« Er sah den Kampfgefährten an. »Ich bitte dich schon jetzt um Nachsicht für all das, was dir merkwürdig an meinem Tun erscheinen wird. Du wirst Zweifel bekommen...« »Ich?«, lachte Boindil auf und rief einen Soldaten, um sich eine Karaffe Bier bringen zu lassen. Nach kurzem Überlegen verlangte er nach einem kleinen Fässchen und einer Flasche bestem Branntwein. Eine Zwergenweisheit sagte: Sorgen und Erinnerungen vertragen Bier. »Wie könnte ich...«
»Du wirst zweifeln, Ingrimmsch«, flüsterte Tungdil geheimnisvoll. »Und ich stand einst an der Spitze des Heeres, das du gesehen hast.«
Boindil wusste nicht, was er darauf sagen sollte, und so beschränkte er sich darauf, sein Gegenüber anzustarren.
Tungdil atmete tief ein und aus, als bereiteten die Erinnerungen ihm körperliche Schmerzen.
Schweigend warteten sie, bis die Tür geöffnet und das verlangte Fässchen Bier und der Branntwein gebracht wurde. Wortlos leerten sie jeder einen weiteren Humpen, bis sich Tungdil dazu durchrang, die Stimme erneut zu erheben.
»Ich habe Dinge getan, Ingrimmsch, die mir niemand glauben würde. Niemand, der den Tungdil von früher kannte. Doch um an den Orten zu überleben, an denen ich mich auf der Suche nach einem Ausgang aus dieser dämonischen Welt aufhielt, musste ich sie tun.« Er sprach heiser, und sein Blick ging durch Boindil hindurch, in eine andere Welt. »Es gibt Geschöpfe, mein Freund, die ihren Opfern unsägliche Folter bereiten. Um sie zu bezwingen, muss man schlimmer sein als sie.« Er berührte die Runen auf seinem Untergewand. »Glaube mir, ich war schlimmer als sie. Selbst die Albae würden mich grausam nennen.« Er griff nach der Flasche.
Boindil musterte den Freund, der ihm plötzlich unendlich fremd erschien. »Möchtest du mir mehr davon berichten?«, brachte er schließlich hervor und goss sich ebenfalls vom Branntwein ein. »Oder...«
Tungdil schüttelte den Kopf. »Alles zu seiner Zeit. Ich habe zu lange in der Finsternis gelebt. Erlaube mir, mich am Licht deiner Gesellschaft zu erfreuen.« Er räusperte sich, sie prosteten sich zu. »Nun, was gibt es im Geborgenen Land?«
»Hat man nichts auf deiner Seite davon gehört?«
»Nein. Es gab keine Verbindung, solange der Schild gehalten hat.« Tungdil trank mit zunehmender Geschwindigkeit, und auch der Becher wurde beim Nachschenken jedes Mal ein wenig voller. »Du hast Lot-Ionan erwähnt. So manches habe ich in den Gängen von Übeldamm im Vorbeigehen aufgeschnappt, das mich mit Sorge erfüllt.« Er füllte sich Bier nach. »Sie redeten von einem Drachen, der im Westen lebt, dem Kordrion, der den Norden beherrscht, und den Albae, die den Osten erobert haben. Wie viel von dem, was ich gehört habe, stimmt?«
»Alles, Gelehrter«, seufzte Boindil. »Das Geborgene Land hat seinen Namen schon lange nicht mehr verdient.« Er stand auf und ging zu einem Tischchen, auf dem noch mehr Karten zusammengerollt lagen. Eine davon wählte er aus, kehrte zu seinem Freund zurück und breitete sie aus. »Lot-Ionans Verstand ist gegangen, das sagt jeder. Er hat meine Heimat, das Blaue Gebirge, von den Zweiten erobert und sie mit seinen magischen Künsten vertrieben. Wer nicht weichen wollte, ist vernichtet worden. Er sammelt Famuli um sich, und wenn du mich fragst, rüstet er sich schon lange für einen Krieg.«
Tungdil starrte auf die Linien. »Gegen den Kordrion?«
»Nein, gegen den Drachen Lohasbrand, der sich das Rote Gebirge der Ersten genommen hat. Soweit wir wissen, gibt es nur noch eine Handvoll des Stammes, die den Durchgang weit im Westen halten und gegen Scheusale von außen verteidigen.« Boindils Zeigefinger zeigte auf Tabain und dann auf Weyurn. »Sie sind dem Drachen tributpflichtig. Der Geschuppte hat Menschen gefunden, welche sich als Vasallenherrscher betätigen und sich Lohasbrander nennen. Jeder von ihnen regiert wie ein Adliger und befiehlt Ork Kontingenten.« Boindil fuhr sich über den Bart. »Ach ja, die Schweineschnauzen sind klüger geworden, jedenfalls diejenigen, die der Drache ins Geborgene Land führte. Das macht es nicht einfacher.«
»Bei den Infamen!«, entfuhr es Tungdil, und er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass Becher, Flasche und Humpen sprangen.
Ingrimmschs Augen verengten sich. »Infame? Was ist das denn?«
Tungdil winkte ab. »Berichte weiter«, sagte er düster. »Im Osten haben die Albae ihre Städte wieder errichtet...« »Die Albae sind zurück!« Boindil nickte. »Es sind andere Albae. Sie kamen durch die Hohe Pforte, nachdem Lot Ionan die Zweiten vertrieben hatte. Unter der Führung eines alten Bekannten von uns: Aiphatön. Erinnerst du dich an ihn?«