»Ja. Und ich hätte niemals geglaubt, dass er dem Geborgenen Land Unglück bringen würde.«
Ingrimmsch nickte. »Wir waren alle überrascht, als er die Albae an die alten Stätten der Schwarzaugen führte und einen Krieg gegen die letzten Elben und diejenigen begann, die den Spitzohren helfen wollten. Na ja, Krieg kann man es nicht nennen, was er gegen etwa vierzig Spitzohren ausgerufen hat.«
»Die Elben sind ausgerottet...«
»Nein. Die meisten von ihnen sind abgeschlachtet worden, die Übrigen sind verschwunden. Niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Es kursieren die unterschiedlichsten Geschichten über ihren Untergang, die ich nicht mal alle kenne, aber Elben wirst du im Geborgenen Land keine mehr finden.« Boindil kratzte sich an der juckenden Nase. »Die Dritten sind seine Verbündeten geworden und herrschen im Osten über einen großen Teil des einstigen Idoslän. Die Albae regieren außerdem über die ehemaligen Menschenreiche Gauragar und Urgon im Norden und Osten.« Er bemerkte, dass Tungdils Augen durch die Karte hindurchblickten. »Ist es zu viel für dich?«
»Fahre fort. Ich kann mehr Leid ertragen, als es den Anschein hat«, erwiderte er und klang zornig.
»Fehlt uns noch der Norden.« Ingrimmsch tippte auf das Graue Gebirge. »Königin Balyndis... Du weißt, wer sie ist?«
Tungdil stimmte abwesend zu, als sei es ihm egal, von wem sein Freund erzählte. Ingrimmsch wunderte sich insgeheim, dass der Name Balyndis nicht mehr in seinem Freund auslöste, doch er fuhr fort. »Sie hält den Steinernen Torweg mit ihren verbliebenen Fünften und setzt sich gleichzeitig gegen den Kordrion und seine Brut zur Wehr. Allerdings ist es ein sehr langwieriger Kampf, denn das Biest vermehrt sich ständig. Niemand weiß, wie es vonstattengeht, denn es gibt nur dieses eine.« »Nun, das konntet ihr nicht wissen. Sie benötigen keine Weibchen«, erklärte Tungdil. »Sie sind alle in der Lage, Eier zu legen, was sie zu einer großen Plage macht. Auch auf der anderen Seite. Es sei denn, man befiehlt ihnen.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken; sein Auge richtete sich an die Decke. »Es ist unfassbar. Ich kehre nach zweihundertfünfzig Zyklen nach Hause zurück und bin müde vom ewigen Kämpfen. Mein Haupt sehnt sich nach einem ruhigen Flecken, wo es sich betten kann. Doch hier erwartet mich mehr Unbill, als es auf der anderen Seite des Schirmes jemals gegeben hat.« Er trat von unten gegen den Tisch, und dieses Mal fielen die Becher sowie die Flasche um. Branntwein ergoss sich auf die Karte, und Boindil versuchte zu verhindern, dass die Linien vollständig verwischten. »Ist denn keiner im Geborgenen Land Manns genug? Was ist mit den Langen? Muss ich wieder die Waffe zur Hand nehmen, die ich liebend gern in den tiefsten von Weyurns Seen geworfen hätte?«
Ingrimmsch hüstelte verlegen. »Das hatte ich vergessen zu erwähnen: Weyurn ist kein Inselreich mehr. Als Lohasbrand sich seinen Weg zu uns bahnte, schuf er einen tiefen Durchbruch, durch den sich die Fluten aus Weyurn ergossen. Er muss für weitere Abflüsse gesorgt haben, um...«
Mit einem wilden Schrei sprang Tungdil von seinem Stuhl auf, packte den schweren Tisch einhändig an der Kante und schleuderte ihn gegen die sieben Schritt entfernte Wand. Das massive Holz zerbrach beim Aufprall in zahlreiche Trümmer, als bestünde es aus morschen Balken; Scherben verteilten sich klirrend auf dem Boden. Boindil schaute seinen Freund mit offenem Mund an. Kein normaler Zwerg, und war er noch so stark, vermochte das zu tun, was er soeben mit eigenen Augen gesehen hatte. Tungdil stöhnte auf und griff sich an den Kopf. Er sank auf seinen Stuhl, keuchte und fluchte gleichzeitig in einer unbekannten Sprache. Ingrimmsch glaubte zu sehen, dass einige Runen auf dem Gewand schwach schimmerten.
Wachen kamen hereingerannt und sahen beunruhigt zu ihrem General, der sie mit einem Winken wieder hinaussandte. Doch es würde Gerede geben.
»Siehst du?«, ächzte Tungdil mit tiefer Stimme unter seiner Hand hervor. »Das meinte ich, als ich von Zweifeln sprach. Du überlegst, wie es sein kann, dass ich einen Tisch mit diesem Gewicht wie einen Sack Federn durch die Luft schleudere.«
»Irgendwie... schon, Gelehrter«, räumte der Zwerg ein. »Miteiner Hand! Ich meine, das ist schon eine Leistung, die sich sehen lassen kann.« Er gab sich Mühe, heiter und lustig zu klingen. »Früher hättest du das nicht gekonnt. Ho, das wären lustige Kämpfe an deiner Seite geworden: Schweineschnauzen-Weitwurf!« Tungdil nahm die Finger vom Gesicht und sah seinen Freund an. Rings um die goldene Augenklappe verschwanden schwarze, dünne Adern unter der Haut. Das Wort Albae zuckte durch Ingrimmsch Verstand. »Ich kann es dir nicht erklären. Noch nicht«, sagte er müde. »Ich brauche dein Vertrauen.« Er streckte ihm die Hand hin. »Gibst du es mir? Ich schwöre, dass ich es nicht missbrauchen oder enttäuschen werde. Bei dem, was wir früher gemeinsam erlebt haben!«
Boindil schlug nach kurzem Zögern ein. Er nahm an, dass es das Beste war, was er für seinen zurückgekehrten Kampfgefährten tun konnte. Mit der Sicherheit, wenigstens einen Zwerg an seiner Seite zu haben, dem er vertrauen durfte, würde er sich rascher einleben und hoffentlich wieder zum alten Tungdil werden. Was ist dir geschehen? »Bei dem, was wir gemeinsam erlebt haben«, wiederholte er die Formel. »Ach, ich bin sicher, dass Boendal sich freuen würde, dich zu sehen.«
»Boendal?«
»Mein Zwillingsbruder!«, kam es überrascht aus Ingrimmschs Mund. Erst Balyndis, jetzt Boendal.
Tungdil schlug sich gegen die Stirn. »Tut mir leid, mein Gedächtnis ist noch immer von Dunkelheit umgeben.« Er stand auf, hob die Humpen, die den Flug unbeschadet überstanden hatten, und füllte sie mit Schwarzbier. Einen reichte er Boindil, den anderen behielt er in der Faust. »Wann sehe ich ihn?«
»Wen?«, fragte Boindil verwirrt.
»Boendal«, antwortete er freudig. »Jetzt, da du ihn erwähnt hast, ist mir sein Gesicht wieder eingefallen.«
»Tungdil, mein Bruder ist schon lange tot.« Ingrimmschs Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Welches Granen muss man erleben, um so viel zu vergessen wie er? Wie sehr hat sein Verstand gelitten? Hat die Narbe auf seiner Stirn damit etwas zu tun? Tungdil sah betreten zu Boden. »Verzeih mir. Es ist mir...« Er seufzte.
»Was ist mit Sirka? Hast du auch sie vergessen?« Ingrimmsch sah schon am Ausdruck in seinem Gesicht, dass er keine Ahnung hatte, von wem er redete. Er packte ihn bei den Schultern. »Gelehrter, sie war eine der Untergründigen und deine große Liebe! Und du willst mir sagen, das wäre dir entfallen?« Er schaute in das Auge und suchte nach einer Erklärung, einer Entschuldigung, einer Antwort. Das Lid schloss sich, bevor das Braun ihm Geheimnisse offenbaren konnte.
Tungdil wandte den Kopf zur Seite. »Es tut mir leid«, wiederholte er rau wispernd. Mit einem Zucken schüttelte er die Hände seines Freundes ab und ging langsam zum Ausgang. »Wir reden morgen weiter, wenn es dir recht ist. Ich brauche mehr Zeit, um...« Seine Stiefel zerbrachen die Scherben zu noch kleineren Stückchen. Ingrimmsch hatte den Eindruck, dass er noch etwas sagen wollte, bevor er die Tür öffnete und in den Flur trat; aber er verließ den Raum schweigend. »Bei Vraccas, was ist mit ihm geschehen?«, wiederholte er leise seine Gedanken und suchte in den Trümmern nach der Karte des Geborgenen Landes.
Sie war untauglich geworden. Der Branntwein hatte die Arbeit des Zeichners zunichtegemacht; Grenzen und Namen verliefen zu Schlieren und unlesbaren Zeichen. Boindil legte den Kopf schief und betrachtete die Überschrift Das Geborgene Land. Der Alkohol und das aufquellende Papier hatten mit einer Prise Vorstellungskraft Das Verlorene Land daraus gemacht.
»Was für eine treffende Bezeichnung«, murmelte er und warf die Karte zurück auf den Boden; dabei entdeckte er einen rauchtrüben, türkisfarbenen Edelstein, den er vorher an der Gurtschließe seines Freundes gesehen hatte. Bei seinem wütenden Tischwurf schien er sich gelöst zu haben.