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Auch wenn der eine oder andere mehr vermutete, niemand brachte Tungdil mit dem Vorfall in Verbindung. Offen zumindest. Und Ingrimmsch hatte bei seinem Erwachen nichts gesagt, was irgendjemanden in Übeldamm beschuldigt hätte.

Als Tungdil um die Ecke bog, stand er unerwartet vor einer Zwergin.

Dem schmalen, jungen Gesicht nach hatte sie noch nicht sehr viele Zyklen gesehen. Die Haut war so dunkelbraun wie die eines Hirten. Sie trug einen beigefarbenen, mit Dornenranken bestickten Waffenrock, der über der Vordernaht lose geschnürt war und einen Blick auf das weiße, ebenfalls mit Stickereien verzierte Hemd darunter erlaubte. Tungdils Blicke wanderten an ihr entlang, er sah einen rasierten Schädel und hellblaue Augen.

»Du bist Tungdil Goldhand?«, fragte sie unsicher.

»Und du bist dem Wuchs nach eine der Untergründigen«, sagte er zu ihr. »Größer als eine Zwergin und kleiner als ein Mensch.«

Sie nickte und kam einen Schritt näher. »Ich bin Kiras.« Dabei hob sie das Gesicht, damit das Lampenlicht besser darauf fiel. »Man sagt, dass ich einer meiner Vorfahrinnen sehr genau gleiche«, sprach sie und klang dabei erwartungsvoll. Die Augen waren fest auf Tungdils Auge gerichtet. »Ich trage ein Gewand, das dem ihren nachempfunden ist. Für dich.«

Tungdil runzelte die Stirn. »Was genau geht mich das an?«

»Ahnst du es nicht?« Kiras hoffnungsvoller Ausdruck veränderte sich. »Ich hatte mich so sehr gefreut, dich überraschen zu können. Wenn du sie schon nicht mehr bei deiner Rückkehr in die Arme schließen kannst, hoffte ich, dass ich deinen Schmerz lindern kann: Ich bin eine von Sirkas Tochterstöchtern.« Sie strahlte ihn an.

»Das fehlte noch«, murmelte Tungdil verdrossen. »Ich will dich und das Erbe in dir nicht kränken, Kiras, doch ich erinnere mich nicht mehr an sie. Weder an ihr Aussehen noch an die Liebe zu ihr. Vieles von dem, was ich einst im Geborgenen Land erlebte, ist aus meinem Kopf verschwunden.« Er sah sie scharf an, als könnte ihr Anblick die Erinnerung zurückbringen. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich sehe sie auch durch dich nicht vor mir.«

Kiras schluckte, ihre Enttäuschung war maßlos und offensichtlich. »Dann heiße ich dich dennoch in ihrem Namen willkommen, Tungdil«, sagte sie rau und wollte ihn umarmen. »Es spielt keine Rolle, ob du dich erinnerst oder nicht. Ich bin ihre Botschaft an dich: Eure Liebe...«

Doch der Krieger wich vor ihr zurück, als sei sie mit einer tödlichen Krankheit verseucht. »Nein, Kiras, nicht«, befahl er ihr finster, und seine Stimme verdüsterte das Licht im Gang. »Ich möchte nicht, dass du mich anfasst.«

Die junge Untergründige stand erschrocken, fassungslos vor ihm und senkte die Arme. »Du weist dadurch nicht nur mich, sondern auch Sirka zurück!«

»Vergiss mich. Und bete zu deinem Gott, dass ihr Erbe in dir überwiegt. Meines bedeutet den Tod.« Er starrte sie an, dann umrundete er sie wie einen störenden Tisch oder ein hinderliches Fass, um den Weg in seine Unterkunft fortzusetzen.

»Aber... ich habe einen Brief von ihr an dich!« Sie langte an ihren Gürtel und nahm ein versiegeltes Pergament hervor, reckte es in die Luft, damit er es besser sah. »Verbrenne ihn oder stell sonst was mit ihm an«, empfahl er, ohne sich umzuwenden. Kiras wandte sich um und betrachtete ihn, während er den Gang entlangschritt. »Das kann nicht wahr sein«, flüsterte sie ungläubig. Langsam senkte sie den Arm mit der uralten Botschaft. Die Lampen erhielten ihre alte Helligkeit zurück, je weiter er sich von ihr entfernte.

»Habe ich es dir nicht vorhergesagt?« Goda hatte das Aufeinandertreffen der beiden aus einer Nische heraus beobachtet. Es war kein Zufall gewesen, dass sich die Untergründige und der Held ausgerechnet an dieser Stelle der Festung begegnet waren. Eine von vielen Proben, die kommen sollten. »Wie kann er mich stehen lassen?«, empörte sich Kiras. Goda sah dem Zwerg nach, dabei legte sie einen Arm um die Untergründige, um sie zu trösten. Weil es nicht der wahre Tungdil ist. Es sollen bald alle sehen.

Tungdil kehrte in seine Unterkunft zurück. Er streifte die Panzerhandschuhe ab und legte sie auf eine Truhe. Als er nach dem ersten Verschluss seiner Rüstung langte, leuchtete eine der Runen, die auf der rechten Brust prangte, warnend auf. »Es gibt sicherlich einen Grund, weswegen du dich nicht bei meinem Eintreten bemerkbar gemacht hast«, sagte er, nach vorn gerichtet. »Das könntest du jetzt nachholen. Denn tust du das nicht«, Tungdil legte die Rechte an Blutdürsters Griff, »könnte ich annehmen, dass du nicht mit freundlicher Absicht gekommen bist.« Er wandte sich nicht um, sondern lauschte den Geräuschen und vertraute seiner Panzerung.

Hinter ihm erhob sich eine Person in Rüstung, Metallschienen klapperten, und eine Waffe wurde gezogen. »Mit der Annahme geht Ihr recht«, sagte die tiefe, volle Stimme eines Ubari. »Allerdings nur, wenn ich keine Antworten auf meine Fragen erhalte.« Jetzt drehte sich Tungdil um und betrachtete den Krieger, der neben dem Schreibtisch auf einem Stuhl gesessen und gewartet hatte. Es war der Anführer der Ubariu, die ihn, Boindil und Goda vom Artefakt zurück in die Festung eskortiert hatten. Er stand drei Schritt von ihm entfernt, das überlange Schwert mit der verstärkten, schweren Spitze hielt er schräg vor den Körper, die Klinge wies nach unten. Die roten Augen hatten sich auf Tungdil gerichtet und waren voller Aufmerksamkeit. Beinahe doppelt so groß wie der Zwerg ragte er auf, und die Muskeln seiner dicken Oberarme zuckten.

»Welche Fragen werden das wohl sein, die ein Ubari mir stellen könnte, Yagur?«, erwiderte Tungdil leichthin. »Oder hat dich jemand gesandt, sie in seinem Auftrag zu stellen? Oder sollte ich sagen: in ihrem Auftrag?«

Yagur ging nicht auf die Anspielung ein. »Ich kenne die Legenden von Euch und dem General, Tungdil Goldhand. Nichts läge mir ferner, als Euch durch Respektlosigkeit zu beleidigen«, sprach er behutsam. »Aber ich bin nicht der Einzige, der Zweifel an Euch hegt.«

»Und du denkst, dass ich Rede und Antwort stehe, wenn du dich in meine Kammer schleichst und mich mit deinem Schwert bedrohst?«, hielt der Zwerg dagegen, und das braune Auge funkelte tückisch. »Da wirst du dich bald sehr wundern, Yagur.« Langsam nahm er die Finger vom Waffengriff. »Was willst du gegen mein Schweigen unternehmen? Bestechen? Betteln?«

Der Ubari-Krieger senkte den Kopf und machte einen Schritt nach vorne. »Ich kann Zungen lockern«, drohte er.

»Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du keine Gelegenheit bekommen wirst, mich gegen meinen Willen zu befragen.« Tungdil nickte zur Tür. »Geh und erzähl Goda, was immer du möchtest. Von mir aus lüge sie an, ich werde dich nicht verraten.« Er öffnete die Schließe des Wehrgehänges und legte es ab, Blutdürster kam neben die Handschuhe.

Yagur schritt auf ihn zu. »Ihr habt es so gewollt«, sagte er bitter. Die breite Hand streckte sich nach dem Zwerg aus, gleichzeitig hob sich das Schwert und zielte auf seine Kehle. »Leistet keinen Widerstand. Ich bringe Euch an einen Ort, wo wir beide uns ungestörter unterhalten können.«

»Daran glaube ich nicht.« Tungdil wich nicht zurück, sondern ließ den Ubari seinen Kragen packen. Unvermittelt legte er die Rechte auf die Hand des Kriegers und hielt sie fest, mit der anderen schlug er gegen den Unterarm. Es knirschte laut, als der Ell bogen brach und aus dem Gelenk riss. Blut schoss aus dem Stumpf.

Bevor Yagur seinen Schock verwand und schreien konnte, hatte Tungdil das Gliedmaß fallen lassen, den Dolch des Ubari gezogen und ihn mit einem Wurf in dessen Hals getrieben. Mehr als ein Röcheln gelang dem Hünen nicht mehr. Er knickte ein, sank auf den Stein und ließ das Schwert fallen.

»Du musst schon deutlicher sprechen, Yagur. So verstehe ich dich nicht.« Tungdil betrachtete den Sterbenden mitleidslos.

Die Tür wurde aufgerissen und drei weitere vermummte Ubariu drangen mit Waffen in den Händen in die Kammer ein.