Der Zwerg senkte den Kopf, und ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen. Schwarze, strichdünne Adern tauchten wie aus dem Nichts um die Augenklappe auf und schnellten spinnennetzartig über sein ganzes Gesicht. »Lasst mich raten: Ich seid hier, um mich zu befragen«, grollte er. Zwei Runen glommen in seiner Panzerung auf und warfen ihren goldenen Schein auf die Angreifer. »Lasst hören. Aber hütet euch vor meinen Antworten!«
Die Ubariu blieben stehen - da erklang das Signalhorn und ließ eine gefürchtete Melodie ertönen: Scheusale drangen aus der Schwarzen Schlucht, um zu vollenden, was die erste Welle der Angreifer nicht erreicht hatte.
Tungdil richtete sich auf, und in seinem Gesicht stand maßlose Überheblichkeit. »Ich lasse euch die Wahclass="underline" Möchtet ihr in meiner Kammer oder draußen auf dem Schlachtfeld sterben?«
IV
Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Stadt Mifurdania, 6491. Sonnenzyklus, Winter.
Coira eilte von Schatten zu Schatten. Sie wählte stets die kleinsten Gässchen der Stadt, um den Orkwachen aus dem Weg zu gehen. Die Kreaturen wagten sich dort nicht hinein, weil sie in der Enge zwischen den Häusern nur hintereinander laufen konnten. Der bestmögliche Ort für einen Hinterhalt gegen starke, übermächtige und verhasste Krieger!
Man hatte die Suche nach ihr zwar aufgegeben, weil man sie schon längst wieder in ihrem Palast auf der Insel Seenstolz vermutete, aber die Lohasbrander ließen ihre hochgerüsteten Orks weiterhin umhermarschieren, um den Einwohnern die Stärke des Drachen zu zeigen und sie einzuschüchtern. Denn die Lage in Mifurdania war angespannt. Das Spektakel um den würdigsten Nachfahren des Unglaublichen Rodarios hatte viele Besucher angelockt, und somit hielten sich noch mehr Menschen als sonst innerhalb der Mauern auf. Gleichzeitig saß der berühmte und vom Volk geliebte Freiheitskämpfer in Haft, der Morde an den verhassten Besatzern verübt hatte und die Flamme des Aufstands schürte, wann immer es vermochte. Sogar jetzt, aus dem Kerker heraus, versprach er den Menschen bessere Zeiten, wie die jüngst aufgetauchten Schriften bewiesen. Eine gefährliche Konstellation.
Es rumorte in den Wirtshäusern. Das Gerücht von seiner bevorstehenden Befreiung wanderte durch die Straßen.
Keiner der Erzähler, der bei Bier und Wein mit gesenkter Stimme davon redete, ahnte, dass Coira aus dem Gemunkel eine Wahrheit werden lassen wollte. Der Held durfte seinen Kopf nicht verlieren.
Die junge Frau wusste, dass sie nicht selbstlos handelte, wenn sie Rodario den Unerreichbaren aus der Zelle befreite. Endlich bekam sie Gelegenheit, mit dem Mann zu sprechen, den sie verehrte. Wegen seines Muts und seiner Poesie. Und dazu sah er noch blendend aus, besaß Witz und Charme. Ihr Herz klopfte daher aus verschiedenen Gründen schneller als sonst. Die Aufregung vor dem bevorstehenden Angriff auf das Gefängnis war lediglich einer davon.
Coira näherte sich dem schlanken, sehr hohen Turm am Osttor der Stadt, in dem die Verbrecher einsaßen, die gegen die Gesetze des Drachen verstoßen hatten. Weil es in den letzten Zyklen immer mehr geworden waren, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen, war der Bau nach oben erweitert worden. Das hatte ihm den Namen »Schilfrohr« eingebracht. Wenn der Wind stark wehte, begann er zu schwingen, gelegentlich verloren die Zinnen Steine, die Löcher in die Dächer der umstehenden Häuser schlugen. Wer in den obersten Stockwerken saß, hatte mit dem Leben abgeschlossen.
Coira atmete tief ein und blickte in die Höhe. Vermutlich saß der Unerreichbare ganz oben. Sie müsste sich durch die Stockwerke kämpfen und darauf achten, dass niemand Alarm schlug, sonst könnte ihr Vorhaben zu ihrem eigenen Tod führen. Ihre magischen Fertigkeiten vermochten einiges auszurichten, doch die Kraft reichte immer nur für ein paar Zauber, danach musste sie in der Quelle nahe dem Palast neue Energie schöpfen. Das machte eine Maga wie sie besiegbar.
»Es müsste eine Quelle zum Umhertragen geben«, murmelte sie und eilte geduckt auf den Eingang des Turms zu.
Sie lauschte an der dicken Tür und vernahm kein Geräusch. Als sie durch das vergitterte Fenster spähte, sah sie auf einen Vorhang. Licht brannte in der Wachstube, das war alles, was sie in Erfahrung brachte.
Coiras Blut rauschte in den Ohren. So viel Unabwägbares, dem sie sich stellen musste. Wie viele Orks werden drin sitzen?, überlegte sie. An normalen Umläufen betrug die Zahl der Wachen nicht mehr als ein halbes Dutzend, doch jetzt, in Hinsicht auf die Lage in der Stadt - das Dreifache?
Sie zog ihr Schwert unter dem Mantel hervor, sammelte die magischen Kräfte und bereitete sich für einen Zauber vor, der die Bewacher in den Schlaf schicken sollte. An Menschen hatte sie ihn schon des Öfteren erprobt, aber wie die grünhäutigen Scheusale darauf reagierten, konnte sie nicht vorhersagen. Coira zog den Schal vor Mund und Nase, dann gab sie sich Mühe, einen grimmigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, bevor sie die Klinke herabdrückte und in die Stube sprang. »Ihr werdet euch nicht rühren...«, rief sie und hielt inne.
Der Raum war - leer.
Auf dem Tisch standen sieben Humpen, alle gefüllt. Die Spuren des Nachtmahls waren deutlich zu erkennen, abgenagte Hühnerknochen, Brotkrumen und Gemüsereste lagen auf einer Platte herum.
Coira drückte die Tür ins Schloss und durchquerte behutsam den Raum. Waren die Wärter nach oben gegangen, um den Gefangenen ihr Essen zu bringen? Ihre leicht orangefarbenen Augen richteten sich auf das Brett mit den Nägeln neben dem Aufgang zu den Zellen, an dem kein einziger Schlüsselbund hing. Es wurde immer merkwürdiger, und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zum Schluss, dass ihr jemand zuvorgekommen war.
Sie eilte die Stufen hinauf in den ersten Stock und hielt sich immer noch bereit, Schwert und Magie einzusetzen.
Noch auf dem Absatz zum ersten Geschoss sah sie sofort die geöffneten Zellentüren. Besaß der Poet der Freiheit derart mutige Freunde, die ihn aus einer Übermacht befreien würden? Sie lächelte bei dem Gedanken glücklich. Hastig rannte sie weiter nach oben, bis sie sich vergewissert hatte, dass jede Zelle leer war. Die Enttäuschung, dass nicht sie es war, die ihn befreit hatte, hielt nicht länger als ein Fingerschnippen. Was zählte, war, dass sich der Unerreichbare in Freiheit befand.
Coira hetzte die Stufen wieder hinab - und stand plötzlich vor Rodario dem Siebten. Er erschrak mindestens ebenso sehr wie sie und stieß sogar einen leisen, spitzen Schrei aus; klirrend fiel sein Dolch auf den Boden.
»Was macht Ihr denn hier?«, wunderte sich die junge Frau.
Rodario schluckte und hob die Waffe auf, säuberte sie an seinem Umhang und hielt sie linkisch in der Hand, dann steckte er sie mit einem verlegenen Räuspern weg. Sie sah sofort, dass er damit nicht umgehen konnte. »Vermutlich das Gleiche, was Ihr hier wolltet«, stotterte er verblüfft und sah auf ihr Schwert. Er wischte sich ein paar Strähnen vor den Augen weg. »Den Unerreichbaren befreien.« Coira musste lachen. »Alleine?«
Der Mann runzelte die Stirn, er schien beleidigt. »Sicher alleine. Ich möchte ja niemanden sonst in Gefahr bringen.« Er sah an ihr vorbei zum Aufgang. »Wo ist er?« »Wir sind beide zu spät. Er ist schon befreit worden.« Sie fand es unglaublich rührend, dass ausgerechnet der schmächtige, unbehände Mann und haushohe Verlierer des Umlaufs ausgerückt war, um sich mit Orks zu schlagen und den Favoriten zu befreien. Wo dieser Rodario doch so gar nichts von dem besaß, was dem Unerreichbaren im Überfluss anhaftete.
Rodario strahlte. »Oh, Samusin sei Dank! Umso besser.« Er wirkte sehr erleichtert. »Dann könnten wir doch wenigstens zusammen verschwinden.« Er betrachtete sie, und Coira erkannte in seinen Blicken, dass sie ihm gefiel. Das hatte ihr noch gefehlt! Plötzlich näherten sich von draußen laute, dunkle Stimmen dem Eingang, dann hörten sie das Rumpeln von schweren Stiefeln und das metallische Scheppern von Rüstungen. Eine Wacheinheit kehrte vom Rundgang zurück.