»Was gäbe ich erst dafür, wenn Ihr so wärt wie er«, fügte sie leise hinzu und wurde rot. Sie schämte sich sofort für die Gemeinheit, die Rodario aber offenbar nicht gehört hatte. Sie gelangten zu der geheimen Pforte in der Mauer, die noch aus der Zeit des alten Mifurdania stammte. Damals war sie für Spione eingelassen worden, um bei einer Belagerung die Feindesstärke zu erkunden. Die Stelle war nur wenigen bekannt, Coira hatte sie von Loytan gezeigt bekommen. Den Lohasbrandern war sie bislang verborgen geblieben. Wer würde sie ihnen auch weisen wollen?
Coira suchte den Mechanismus, Rodario blickte die ganze Zeit nach rechts und links, um nach Orks Ausschau zu halten.
»He! Ihr da unten!«, traf sie der verwunderte Ruf von oben, und ein gerüsteter Nachtwächter beugte sich über die Brüstung, um sie besser sehen zu können. »Was treibt ihr an der Mauer?« Er ging ein paar Schritte die kleine Treppe neben ihm herab, hob seinen Spieß und drehte ihn, damit die Klinge nach unten wies und er nach ihnen stechen konnte.
Coira wich einen Schritt zurück, hob den linken Arm und wollte den Mann mit einem weiteren Schlafzauber ruhig stellen, doch ihr inneres magisches Reservoir war aufgebraucht. Zwar stieg der letzte Rest Energie empor und strömte aus ihren Fingern, aber mehr als ein schön anzuschauendes Flittern wurde daraus nicht. Harmlos, Vergeudung.
Der Nachtwächter fluchte und riss sein Rufhorn an die Lippen.
Dafür handelte Rodario für seine Verhältnisse sehr geistesgegenwärtig. Er schleuderte einen zweiten Dolch, den er wie aus dem Nirgendwo zog, kraftvoll in die Höhe - hatte jedoch vergessen, ihn aus der Hülle zu befreien!
Mit einem hohlen Geräusch knallte die breite Seite gegen die Stirn des Wärters, der aufstöhnte und blitzartig hinter der Brüstung verschwand; gleich darauf hörten sie seinen Körper fallen.
»Ich habe meinen letzten Dolch verloren!«, beschwerte er sich bei Coira. »Verflucht, der war teuer! Er war aus...«
»Seid ruhig!« Coira drückte den Öffnungsmechanismus, und die Mauer ließ sich etwas zur Seite schieben. »Ich kaufe Eucheinen neuen, aber jetzt bewegt Euch!«, scheuchte sie ihn hinaus. »Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn, nicht wahr?«
»Ich... bin kein Huhn!« Rodario geriet wieder ins Stammeln.
Loytan wartete auf der anderen Seite und sah den Schauspieler verwirrt und dann sie anklagend an. »Ihr wisst, dass Ihr den Falschen befreit habt, Prinzessin?«, fühlte er sich verpflichtet, sie aufmerksam zu machen.
Coira seufzte und schwang sich in den Sattel. »Erspare mir das«, fauchte sie und beobachtete, wie sich der Schauspieler mit dem Saum seines Gewands im Steigbügel verfing. Das Pferd trabte los, und er hopste auf einem Bein nebenher. »Kein Wort darüber. Ich erkläre es dir unterwegs«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass Loytan den Mund wieder öffnete.
Endlich saß der Siebte im Sattel. »Von mir aus können wir flüchten«, verkündete er. »Am liebsten vor ihm«, raunte sie Loytan zu und ließ ihren Rappen antraben. Die beiden Männer folgten ihr. »Wohin reiten wir?«, rief Rodario.
»Zum Palast«, gab Coira zurück und sah hinter sich, wo sie Lichtschein in der Dunkelheit bemerkt hatte. Reiter mit Fackeln in den Händen erschienen, etliche kläffende Bluthunde rannten vor den Pferden her und setzten sich auf die Fährte der Flüchtenden. Die Lohasbrander hatten nicht vor, sie einfach ziehen zu lassen. Umso wichtiger war es, die Quelle bei Seenstolz zu erreichen, um frische Energie aufzunehmen.
Andernfalls...
Das Geborgene Land, Protektorat Süd-Gauragar, 6491. Sonnenzyklus, Winter.
Hindrek lenkte den Schlitten, auf dem sich armlange, dicke Holzstücke bis zum Rand der Ladewand stapelten, aus dem Wald auf das Haus inmitten der verschneiten Lichtung zu.
Er hatte den Vorrat bereits vor einem Zyklus angelegt, und nun war es an der Zeit, das Brennmaterial zu seinem Heim zu bringen und es auf ofengerechte Größe zu hacken oder zu sägen. Die Scheite im Haus gingen zur Neige, sie hatten gerade noch gereicht, um den Herd in der Küche anzufeuern.
Hindrek ließ die Pferde neben der Scheune anhalten und rief nach seinen beiden Söhnen, damit sie ihm beim Abladen halfen.
Die Tür öffnete sich, und zwei Jungen im Alter von elf und vierzehn Zyklen kamen herausgelaufen. Sie trugen wie ihr Vater wild gemusterte Mäntel und Mützen aus verschiedenen Fellstücken, vom Eichhörnchen bis zum Hasen. Es spielte keine Rolle, solange sie warm hielten. Ihre Mutter winkte vom Fenster aus und hielt ein abgezogenes Kaninchen in die Höhe. Es sollte das Mittagsmahl werden. Hindrek stand auf der Ladung und reichte Cobert, dem älteren der beiden, das Holz. »Na, wer hat das Tier gefangen?«
»Ich«, sagte Ortram stolz. »Es hing in meiner Schlinge.«
»Er weiß einfach immer, wo die kleinen Biester langlaufen«, lobte Cobert und grinste. »Dafür bin ich besser im Umgang mit dem Bogen.«
»Du hast aber schon lange kein Wild mehr nach Hause gebracht«, sagte sein Bruder und streckte ihm die Zunge raus. »Ich bin viel besser als du!«
»Ja, ja, ohne dich wären wir sicherlich verhungert«, lachte Hindrek und gab auch ihm ein großes Stück Holz. »Hier, zersäge es, spalte es klein und kräftige deine Muskeln. Sonst wirst du es niemals schaffen, einen Bogen so zu spannen wie Cobert.« Jetzt streckte der andere Junge die Zunge raus und eilte zum Hackklotz, in dem die schwere, große Axt steckte; sein kleiner Bruder folgte ihm.
Hindrek sah ihnen nach, dann hob er die Hand und grüßte seine Gemahlin Qelda, die ihm einen Handkuss zuwarf, bevor sie vom Fenster verschwand. Der Mann beobachtete, wie seine Söhne das Holz abluden und sich darum stritten, wer nun die schwere Arbeit machen durfte.
Hindrek war mit seinem Leben als Wildhüter zufrieden, auch wenn er sich gewünscht hätte, nicht im Dienst von Graf Pawald zu stehen, einem Vasallen der Albae. Doch sie ließen ihm seine Ruhe, solange er seiner Aufgabe nachging. Er hoffte nur, dass seine Söhne im Gegensatz zu ihm eines Umlaufs in wirklicher Freiheit leben würden. Der Wind drehte und wehte nun aus Norden. Er trug den dreien einen wunderschönen Gesang zu, der sie mit den ersten Tönen rührte und die Härchen auf ihren Armen und im Nacken vor Ergriffenheit sich aufrichten ließ.
Die Weise bestand aus einfachen Silben ohne Sinn, doch die Klarheit der Frauenstimme und das Gefühl darin bannte die drei an ihre Plätze und zwang sie dazu, in den Wald zu blicken, von wo sie erklang, bis sie leiser und leiser wurde und schließlich nicht mehr zu hören war.
Ortram wandte sich mit verzücktem Gesicht an seinen Vater. »Was war das?« Hindrek erschauderte und spürte Sehnsucht in sich. Sehnsucht nach mehr von dem, was er soeben hatte vernehmen dürfen. »Ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht eine Wanderin, die sich die Zeit ihres Marsches mit einem Lied vertreiben wollte.« Cobert warf die Axt in den Schnee und ging schnurstracks auf die Bäume zu. »Ich möchte sehen, wie eine Frau aussieht, die eine solche Stimme hat«, rief er und rannte los.
»Bleib!«, befahl ihm Hindrek und sprang vom Schlitten. »Wir haben Arbeit zu erledigen.« Doch er verstand den Wunsch seines Ältesten nur zu gut. »Warte!« Er folgte dem Sohn, der zwischen den Stämmen verschwand. Gut, dass er nun einen Vorwand hatte, dem Gesang zu folgen, ohne sich vor seiner Gemahlin rechtfertigen zu müssen. »Ortram, du wartest hier. Ich gehe und achte auf deinen Bruder.«
Er sah Coberts Flickenmantel vor sich zwischen den Bäumen verschwinden. Der Junge legte eine enorme Geschwindigkeit vor. Wie besessen trieb es ihn vorwärts, und er zog seinen Vater tiefer in den Forst; bald schwitzte der Wildhüter gewaltig unter seinem Mantel.
Die Schatten wurden dichter, und es schien mit einem Mal, dass die Sonne ihre Kraft verlor, je weiter sie sich vom Haus entfernten. Hindrek wurde unheimlich zumute. »Cobert!«, rief er. »Bleib endlich stehen!« Er hielt inne und stützte sich an einer Palandiell-Tanne ab. »Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Es werden die Waldgeister sein, die sich einen Spaß mit uns erlauben wollen. Hörst du nicht?« Er hielt den Atem an und lauschte.