Er kreischte vor Furcht auf, die Hand krallte sich in den Dreck aus Staub und zerstampften Knochen, um ihn vorwärtszuziehen...
Da flammte die magische Sperre wieder auf und teilte ihn auf Höhe der Hüfte entzwei. Ein letztes, gellendes Kreischen entstieg seiner Kehle, dann starb er; die Beine zuckten noch eine Weile, ehe auch sie still lagen.
»Vraccas sei Lob und Dank! Der Schild ist wieder da!« Boindil Zweiklinge, von seinen Freunden und Feinden wegen seiner Raserei, die ihn im Kampf befiel, auch Ingrimmsch genannt, hatte das Ende der Kreatur genau beobachtet. Er legte das Fernrohr auf die steinerne Brüstung und betrachtete den flackernden Schirm aus magischer Energie, der um die Schwarze Schlucht lag. »Das Artefakt scheint bald am Ende seiner Kraft zu sein.« Fragend sah er zu Goda. »Kannst du mir mehr sagen?« Er und seine geliebte Gefährtin standen auf dem Nordturm der Festung Übeldamm, die sich seit zweihunderteinundzwanzig Zyklen rund um diesen Ort erhob. Erbaut von Zwergen, Untergründigen, Ubariu und Menschen, umschlossen die im Viereck angeordneten Mauern die Schwarze Schlucht. Dreißig Schritt erhoben sie sich in die Höhe, und an ihrer dicksten Stelle hatten sie eine Stärke von fünfzehn Schritt. Die Bauweise war schlicht, doch von unübertroffener Meisterhaftigkeit. Das Zusammenspiel der verschiedenen Völker hatte Besonderes geschaffen, auch wenn der zwergische Anteil überwog. Ingrimmsch war stolz darauf, und die Runen an den Türmen lobten Vraccas, Ubar und Palandiell.
Auf den breiten Wehrgängen, den Türmen und in den Stockwerken unter den überdachten Plattformen standen Katapulte, die bei Bedarf Steine, Pfeile und Speere schleudern konnten; in den Kammern lagerten genügend Geschosse, um es mit hundertfacher Überzahl aufzunehmen. Darüber hinaus hielt sich eine Besatzung von zweitausend Kriegern in Übeldamm auf, um jederzeit zu den Waffen greifen und finstere Heere zurückschlagen zu können.
Doch seit zweihunderteinundzwanzig Zyklen war dies nicht notwendig gewesen.
Die Kreatur, die ausblutend auf der Erde lag, war das erste Wesen, welches sein Gefängnis verlassen hatte: Ein finsterer Einschnitt von einer halben Meile Länge und einhundert Schritt Breite zerstörte die Schönheit der umgebenden Landschaft und markierte die Stelle, aus der das Böse quellen würde, wenn die magische Barriere und die Festung es zuließen.
Goda blickte den Krieger an - ein stattlicher Zwerg aus dem Stamm der Zweiten und von derartiger Kampferfahrung sowie solchem Ruhm, dass er zum Befehlshaber der Festungstruppen erhoben worden war. Sie legte den Kopf schief; dunkelblonde Haare spitzten unter ihrer Kappe hervor.
»Hast du Angst davor, dass der Schild zusammenbricht, oder hoffst du darauf?« Im Gegensatz zu Ingrimmsch, der ein mit Eisenplatten verstärktes Kettenhemd angelegt hatte, trug sie ein langes hellgraues Kleid, das außer dem mit Goldfäden bestickten Gürtel schlicht und schmucklos war. Goda hatte nicht einmal einen Dolch im Gürtel stecken und bewies unumwunden, dass sie dem herkömmlichen Kampf abgeschworen hatte. Ihre Waffen waren magischer Natur.
»Ho, ich habe keine Angst vor dem, was in der Schwarzen Schlucht lauert! Viel schlimmer als das, was im Geborgenen Land umgeht, kann es nicht sein«, grummelte er gespielt beleidigt und strich sich durch den schwarzen Bart, in dem dicke, grausilberne Haare aufschimmerten und von seinem fortgeschrittenen Alter kündeten. Im Grunde war es das beste Alter. Ingrimmsch schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Und die Hoffnung habe ich niemals aufgegeben, seit er auf die andere Seite gegangen ist.« Er wandte den Kopf nach vorn und blickte entschlossen auf den Eingang in die Schwarze Schlucht, die hinter dem Schild zu sehen war. »Deswegen harre ich hier aus. Bei Vraccas, sobald ich ihn hinter dem Schild auch nur erahnen kann, will ich ihm zu Hilfe eilen! Mit allem, was ich aufbieten kann.« Er schlug mit beiden Fäusten auf die Mauerkrone.
Goda sah hinüber zum Artefakt, das eine undurchdringbare Sphäre um die Schlucht wob. Es erhob sich vor dem Eingang zur Schwarzen Schlucht und bestand aus vier aufrecht stehenden, ineinander verschlungenen Eisenringen, die andeutungsweise eine Kugel formten, deren Durchmesser vielleicht zwanzig Schritt betrug. Runen, Zeichen, Kerben und Punkte befanden sich auf den metallenen Kreisen; unzählige Querstreben führten in den Mittelpunkt, wo sich eine mit Symbolen verzierte Halterung befand. Und genau dort saß die Quelle seiner Macht: Die Kraft bezog es von einem Diamanten, in dem enorme Mengen an magischer Energie gespeichert waren.
Doch der Stein bekam mehr und mehr Risse, mit jedem Umlauf einen. Das dabei entstehende laute Knistern hallte von den Mauern wider. Inzwischen wusste jeder Soldat davon.
»Ich kann dir nicht sagen, wie viele Risse er noch verkraftet«, meinte Goda leise, und ihre Brauen zogen sich zusammen. »Es könnte jeden Augenblick geschehen oder aber noch Zyklen halten.«
Ingrimmsch seufzte und nickte den Wachen zu, die an ihnen vorbeigingen. »Was meinst du damit?«, brummte er und fuhr sich mit den Händen über die ausrasierten Schädelseiten; anschließend richtete er seinen dunklen Zopf, der von ebenso vielen silbernen Strähnen durchzogen war wie der Bart und seinen Rücken hinab bis zum Gürtel hing. »Geht es nicht deutlicher?«
»Das, was ich immer meine, wenn du mich danach fragst, mein Gemahclass="underline" Ich weiß es nicht.« Goda verzieh ihm seinen unfreundlichen Ton, da sie wusste, dass er der Sorge entsprang. Über zweihundertfünfzig Zyklen Sorge. »Vielleicht hätte dir Lot-Ionan eine Antwort geben können.«
Ingrimmsch stieß ein kurzes, hartes und freudloses Lachen aus. »Ich weiß, was er mir heute geben würde, wenn wir uns träfen. Vermutlich einen vernichtenden Zauberspruch zwischen die Augen.« Er nahm den Krähenschnabel, den einst sein Zwillingsbruder Boendal Pinnhand im Kampf geführt hatte, schulterte ihn und schritt den Wehrgang entlang. Boendal zu Ehren nutzte er die langstielige Waffe, an deren Ende auf der einen Seite ein schwerer flacher Kopf und auf der anderen ein unterarmlanger gekrümmter Sporn saßen. Es gab keine Rüstung, die dem Krähenschnabel in der Hand eines Zwerges standhielt.
Goda folgte ihm. Es war Zeit für den Rundgang.
»Hättest du gedacht, dass wir eine solch lange Zeit im Jenseitigen Land verbringen müssen?«, fragte er sie nachdenklich.
»Ebenso wenig wie ich gedacht hätte, dass sich die Dinge im Geborgenen Land derart wandeln«, gab sie zurück. Goda wunderte sich über die nachdenkliche Stimmung ihres Gefährten, mit dem sie vor vielen, vielen Zyklen den Ehernen Bund eingegangen war.
Ihrer Liebe waren sieben Kinder entsprungen, zwei Mädchen und fünf Söhne. Das Artefakt hatte sich nicht daran gestört, dass seine Hüterin keine Jungfräulichkeit mehr besaß, solange eine Seelenreinheit bestand. Und Goda bewahrte sich diese Unschuld. Nichts Böses hatte Einzug in ihr Denken gehalten, sie war frei von Heimtücke, List und Machtgier.
Schon allein, dass sie sich von Lot-Ionan abgewandt hatte und ihm nicht wie einige Verblendete gefolgt war, machte dies überdeutlich. Doch ihre Entscheidung hatte ihr einen mächtigen Feind beschert. »Denkst du nicht, es wäre an der Zeit, dass du zurückgehst und ihnen beistehst? Du weißt, dass sie auf dich warten. Auf den letzten großen Helden der Zwergenstämme aus den glorreichen Zyklen.«
»Und dich allein lassen, wo das Artefakt zerspringen kann, und den Befehl über die Festung aufgeben?« Ingrimmsch schüttelte energisch den Kopf. »Niemals! Wenn sich die Ungeheuer und Scheusale aus der Schwarzen Schlucht ergießen, muss ich hier sein, um ihnen zusammen mit dir, meinen Kindern und Kriegern Einhalt zu gebieten.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Würde dieses Übel auch noch ins Geborgene Land schwappen, gäbe es keinerlei Hoffnung mehr. Für niemanden, ganz gleich, welchem Volk er angehört.«
»Warum verbietest du Boendalin, zu unserem Volk zu gehen? An deiner Stelle«, drängte sie sanft. »Es wäre wenigstens ein Signal an die Kinder des Schmieds...« »Boendalin ist ein zu guter Krieger«, unterbrach er sie. »Ich brauche ihn als Ausbilder für die Truppen.« Ingrimmschs Blick wurde hart. »Keiner meiner Söhne und Töchter wird mich verlassen, es sei denn, wie haben die Schwarze Schlucht für alle Zeiten zugeschüttet und mit geschmolzenem Stahl aufgefüllt.«