Goda seufzte. »Heute ist keiner deiner besten Umläufe, Ingrimmsch.«
Er blieb stehen, stellte den Krähenschnabel auf den Boden und fasste ihre Hände. »Verzeih mir, Gemahlin. Aber zu sehen, wie der Schild zusammenbricht und wie lange er benötigt hat, um sich neu zu errichten, wühlt mich auf. Dann neige ich dazu, schnell ungerecht zu werden.« Er lächelte unsicher und bat mit Blicken um Entschuldigung, die sie ihm mit einem Lächeln gewährte.
Sie marschierten zum Turm und nahmen den Fahrstuhl nach unten, der über Gegengewichte und Seilwinden bedient wurde.
Am Tor der Festung wurden sie bereits von einhundert schwer gerüsteten Ubariu-Kriegern erwartet.
Ingrimmsch musterte die Gesichter, die ihm trotz der vielen Zyklen immer noch fremd waren. Tiefe Freundschaften mit einem Volk zu schließen, das den Orks täuschend ähnlich sah und sie darüber hinaus noch im Wuchs überragte, behagte ihm nicht. Ihre Augen schimmerten hellrot wie kleine Sonnen. Im Gegensatz zu Tions Kreaturen pflegten sie sich und unterschieden sich auch von ihrem Wesen her, weil sie sich von dem Bösen und der wahllosen Grausamkeit gegenüber anderen Wesen abgewandt hatten - zumindest behaupteten das die Untergründigen, die Zwerge des Jenseitigen Landes...
Und auch wenn es niemals einen Grund zum Zweifeln gegeben hatte, so vermochte Ingrimmsch es nicht, über seinen Schatten zu springen und sie als gleichberechtigte Freunde anzusehen. Im Gegensatz zu seiner Gemahlin und den Kindern blieben sie lediglich Verbündete.
Goda gab ihm einen sanften Stoß, und er riss sich von seinen Gedanken los. Er wusste, dass seine Vorbehalte unrecht waren, doch dagegen tun konnte er nichts. Vraccas hatte allen Zwergen des Geborgenen Landes den Hass auf Orks und andere Kreaturen Tions eingemeißelt. Die Ubariu hatten einfach das Pech, auszusehen wie das Böse - und dennoch führte an ihnen kein Weg vorbei, wenn es um die Verteidigung der Schwarzen Schlucht ging.
Ingrimmsch gab den Torwachen ein Zeichen.
Rufe hallten, kräftige Arme bewegten Ketten und Seile von Flaschenzügen und brachten die schweren Zahnräder in Schwung, die den Öffnungsmechanismus bildeten. Mit einem eisernen Ächzen schob sich das massive Tor von elf Schritt Höhe und sieben Schritt Breite auf und schuf eine Lücke, durch welche die Kolonne hinaus und auf das Artefakt zumarschierte.
»Wir nehmen uns heute die Ränder entlang des Schirmes vor«, sagte Ingrimmsch zu dem Ubari unmittelbar neben sich, der auf den Namen Pfalgur hörte. »Ich traue den Biestern zu, dass sie irgendwann einen Gang gegraben haben, der sie an dem Schild vorbeiführt. Du führst die eine Hälfte, ich die andere. Ich beginne am Artefakt, du kannst dich auf den Weg machen.«
»Verstanden, General«, sagte der Ubari mit tiefer Stimme und gab den Befehl weiter. Sie liefen durch die kahle Senke, in deren Mittelpunkt sich die Schwarze Schlucht befand. Die Ränder waren glatt und schwarz wie gefärbtes Glas, steile Wege führten rechts und links aus ihr heraus und endeten vor der schützenden Sphäre. Ingrimmsch wandte sich nach rechts zum Artefakt, der Ubari schwenkte mit seiner Truppe in die andere Richtung.
Während Goda jede Kleinigkeit des Konstrukts, um das die gleiche Hülle aus Energie lag wie um die Schlucht, und den Diamanten mithilfe eines Fernrohrs inspizierte, ging Ingrimmsch zum Leichnam des Scheusals. Auf seiner Seite lagen die hässlichen, dünnen Beine, denen er nicht zutraute, die schweren Stiefel an den Füßen anders als schlurfend zu bewegen; hinter dem Schirm erkannte er verschwommen den von Pfeilen durchbohrten Oberkörper. Grünliches Blut hatte Lachen und kleine Rinnsale gebildet. »Mistvieh«, meinte er leise und trat gegen die linke Wade des Wesens. »Die Freiheit hat dir den Tod gebracht.« Ingrimmsch hob den Blick und starrte in die Schlucht. »Warst du allein, als du die Schwäche des Schirms erkanntest, oder nicht?«, sprach er leise, als könnte die Kreatur ihn verstehen.
»Boindil!«, hörte er Godas Ruf, und in ihrer Stimme lag schlecht verborgene Aufregung. Etwas mit dem Diamanten schien nicht in Ordnung zu sein! Er wollte sich zu ihr umdrehen - da dachte er, in der Finsternis eine Bewegung ausgemacht zu haben. Ingrimmsch verharrte und starrte ohne ein Blinzeln in die Schwärze.
Die Kraft der Sphäre brachte seine kurzen Barthaare über der Oberlippe dazu, sich aufzurichten. Oder sollte es am Ende ein ungutes Gefühl sein, das ihn befiel? »Boindil, so komm doch!«, versuchte es seine Gefährtin erneut. »Ich muss dir was...« Ingrimmsch hob den rechten Arm, um zu zeigen, dass er sie vernommen hatte, doch Ruhe wünschte. Seine braunen Augen zuckten hin und her, er suchte im Zwielicht nach schemenhaften Gestalten.
Wieder bemerkte er ein einzelnes Huschen, von einem Felsen zum nächsten, gleich darauf noch eins und dann wieder eines!
Es gab für ihn keinen Zweifel, dass sich weitere Monstren anschlichen. Fühlten sie den Verfall der Barriere? Waren sie mitihren tierhaften Bestiensinnen ihnen gegenüber am Ende im Vorteil?
»Ich möchte...«, rief er über die Schulter und schwieg vor Überraschung: Hatte er eben tatsächlich einen Zwergenhelm gesehen?
»Verfluchte Verzerrungen!«, rief er und machte einen Schritt nach vorne. »Tungdil!«, brüllte Ingrimmsch erwartungsvoll und stand gefährlich dicht vor der Sphäre, sodass er ihr leises Rauschen vernahm, das mal heller und mal dunkler klang. »Vraccas, lass meine Augen sich nicht getäuscht haben«, betete er und hätte beinahe eine Hand gegen den Energieschirm gelegt; er schluckte, und niemals war ihm seine Kehle derart eng erschienen.
Da zuckte eine bleiche Klaue, so breit wie drei Burgtore, aus dem Schatten und drosch mit ganzer Kraft gegen die Sphäre, dass es einen dumpfen Schlag gab und der Boden erbebte.
Mit einem Fluch sprang Ingrimmsch rückwärts und schlug in einem Reflex aus der Bewegung mit dem Krähenschnabel zu. Der Stahl prallte gegen die Barriere, ohne etwas auszurichten. »Der Kordrion ist zurück!«, schrie er und bemerkte voller grimmiger Zufriedenheit, dass die Warnhörner auf den Wehrgängen die Besatzung unverzüglich zu den Katapulten riefen. Die vielen Übungen machten sich bezahlt. Die bleiche Klaue krümmte sich, die langen Nägel fuhren an der Innenseite des Schirmes entlang und ließen hellgelbe Funken aufstieben. Gleich darauf zog sie sich zurück, und eine Woge aus weißem Feuer rollte heran, schwappte wassergleich gegen die Barriere und verteilte sich gleichmäßig nach allen Seiten.
Ingrimmsch wich geblendet bis zum Artefakt zurück, ohne sich umzuwenden. »Sie wird nicht mehr lange halten«, rief er Goda zu. »Die Bestien wissen es und sammeln sich!«
»Der Diamant!«, schrie sie zurück. »Er zerbricht!«
»Was? Nicht jetzt, Vraccas!« Endlich sah er wieder etwas: Hinter der Wand aus Energie standen die unterschiedlichsten Scheusale und schwangen die Waffen! »Oh, ihr widerlichen...«
Die meisten von ihnen glichen dem Wesen, das von der Barriere in der Mitte zerschnitten worden war; doch es gab zahlreiche andere Exemplare, wesentlich breiter, stärker und von einschüchterndem Äußeren, wie sie ein Albtraum nicht besser hätte schaffen können.
»Bei Vraccas«, stieß er aus und bedauerte sehr, sich getäuscht zu haben. Sein Freund war nicht erschienen. Er gab den Ubariu knappe Befehle, sich vor dem Artefakt zu verteilen, um Goda zu beschützen. Die Krieger bildeten eine Mauer aus Körpern, Eisen und Schilden, die Lanzen reckten sich wie starre, wehrhafte Tentakel nach vorn. Ingrimmsch wandte sich zu ihr um und sah, dass sie eine Hand gegen den schimmernden Schild gelegt hatte. »Was ist geschehen?«, rief er ihr zu.