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Goda fixierte Tungdil, als er dicht an ihr vorüberging. Sie hatte den Eindruck, dass er sie gar nicht erkannte; das braune Auge war voller Gleichgültigkeit geblieben, als er sie angesehen hatte. »Er hat noch nicht einmal nach Sirka gefragt«, sagte sie leise zu sich selbst, und ihre Miene verdüsterte sich. Auch wenn ihr Gemahl im Überschwang der Gefühle leicht zu überzeugen gewesen war, in ihr erwachte ein Verdacht. Goda folgte ihnen, und die Krieger sicherten ihren Rückzug hinter die gewaltigen Tore des Bollwerks. In den kommenden Umläufen würde sie den Zwerg, den die Mehrheit sicherlich für Tungdil Goldhand hielt, einer intensiven Prüfung unterziehen. Während sie unter lautem Hörnerklang und dem Jubel der Truppen einzogen, dachte sie sich bereits Fragen aus. Denn wenn das Böse ihnen einen falschen Helden gesandt hatte, trachtete es gewiss nach Schrecklichem.

Die schwarze Rückenpanzerung Tungdils mit den funkelnden Intarsien vor Augen, wurde sich die Zwergenmaga mit jedem Schritt, den sie tat, sicherer, dass es nicht der alte Freund war, den sie bei sich empfingen. Sie nahmen das Böse bei sich auf und feierten es sogar!

Sie sah nach rechts und links, die Türme hinauf, von wo die begeisterten Rufe auf sie herabstürzten, sodass eine Unterhaltung unmöglich wurde.

In diesem Augenblick wurde sie sich bewusst, dass sie vermutlich die Einzige in der Festung war, die sich Sorgen machte. Alle anderen befanden sich in einem Freudentaumel, den der lange erwartete Erlöser von allem Bösen unter ihnen ausgelöst hatte. Ohne dass er überhaupt ein Wort zu ihnen gesprochen hatte.

Goda seufzte; ihr Blick streifte zufällig Yagur, den Anführer der Ubariu - und sie entdeckte auf seinem Antlitz eine allzu bekannte Sorge.

Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Stadt Mifurdania, 6491. Sonnenzyklus, Winter.

»Und hier, hochgeschätzte Spectatores, hier, zu meiner Linken und ganz außen, haben wir einen weiteren legitimen Spross des einmaligen, unerreichten, seit Dekaden von Zyklen niemals überbotenen Unglaublichen Rodarios!«, rief der Mann in opulenter weißer Kleidung von der hohen Bühne herab, die vor wenigen Umläufen noch als Hinrichtungsstätte gedient hatte. Wer genau hinsah, erkannte ein Büschel Haare, das an der Kante des von Kerben übersäten Holzklotzes im getrockneten Blut haftete, auf dem der Mann stand; es störte niemanden. Besser gesagt: Es durfte niemanden stören. Auf dem Platz in der Mitte der Stadt vor dem Rundtheater namens Neues Curiosum gab es kaum eine freie Stelle mehr, und auch die kleine überdachte Tribüne für Adlige und Kaufleute oder andere Bürger mit Privilegien war gefüllt.

Nur die erste Reihe, die ausgesuchten Zuschauern vorbehalten war, blieb leer. Sie kamen selten zu solchen heiteren Veranstaltungen, meistens gar nicht. Sie bevorzugten die Enthauptungen, öffentlichen Bestrafungen und Zurschaustellungen, was eine andere Bezeichnung für Demütigung war.

In der zweiten Reihe saß eine hübsche junge Frau mit wachen, leicht orangefarbenen Augen und schönen schwarzen Haaren, die bis an den Gürtel reichten und unter einem durchsichtigen Schleier lagen. Sie hatte einen Mantel aus schwarzem Wolfsfell um sich gelegt, in der Linken hielt sie einen Becher mit heißem Gewürzwein.

Der Marktplatz war zugestellt mit allen möglichen Buden, in denen die Händler verschiedenerlei Dinge zum Essen anboten, von heißen Würsten über geräucherte Schinkenstücke bis hin zu Waffeln und süßen Maronen in Sahne. Wer es kalt hatte, griff gern auf warmes Bier und erhitzten Wein zurück, je nach Vorliebe bekam man beides mit verschiedenen Gewürzen und Honig. Weiße Dampfschwaden standen über dem Marktplatz, ausgestoßen von den zahllosen kleinen Öfen in den Läden; aus einem Wirtshaus drangen gedämpfte Musik und Gesang. Die junge Frau atmete den Geruch ein und lächelte. Endlich ein Grund zur Freude in den traurigen Zyklen der Besatzung durch Lohasbrand und seine Spießgesellen.

»Möchtet Ihr noch etwas, Prinzessin Coira?«, fragte ihr Begleiter sie, der vom Alter her ihr Bruder hätte sein können. Unter seinem offenen braunen Fellmantel lag eine Lederrüstung, am Gurt trug er ein Kurzschwert. Die flache, gefütterte Kappe aus Wolle verdeckte das Haar und ließ ihn harmlos erscheinen. Mit Absicht.

»Nicht diesen Titel!«, zischte Coira und blitzte ihn vorwurfsvoll an. »Du weißt, was sie mit dir tun, wenn sie hören, wie du mich angesprochen hast, Loytan.« Ihr Begleiter ließ seine Blicke über die leere Reihe schweifen. »Nun, es ist keiner da, der mich dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, dass ich die Wahrheit sage«, antwortete er leise, aber fest. »Ihr seid die Prinzessin, und Eure Mutter wäre die Königin von Weyurn, wenn es den verfluchten Drachen...«

Coira legte ihre Hand auf seinen Mund. »Sei still! Du redest dich um dein Leben! Sie haben ihre Augen und Ohren überall.«

Vor dem inneren Auge sah sie ihre Mutter, die im eigenen Palast als Gefangene lebte und den Ring der Schande um den Hals trug. Den gesamten Umlauf über stand sie unter Bewachung, gedemütigt und ihrer Macht beraubt. Wenn der Drache beschloss, sie nicht mehr am Leben zu lassen, konnten seine Diener den Ring zuziehen und sie qualvoll ersticken lassen.

Coira würde vieles geben, um sie befreien zu können. Sie atmete langsam aus. »Schau nach vorn und genieße, was uns die Nachfahren des Unglaublichen in diesem Zyklus bieten, wenn sie den Besten unter sich suchen.«

Loytan roch an ihrer Hand, lächelte sie ergeben an und wandte sich der Bühne zu. Der Ausrufer deutete mit seinem Rohrstock ans Ende der Reihe, die aus nicht weniger als elf Männern und sechs Frauen bestand.

Sie trugen auffällige, extravagant geschnittene Kleidung; das Wort bunt wäre für die Stoffe sicherlich erfunden worden, wenn es nicht schon vorher existiert hätte. Und doch dienten die Röcke, Kleider, Hosen, Hüte, Stiefel und anderen Dinge einzig und allein dazu, ihren Besitzer oder ihre Besitzerin noch mehr von den anderen abzuheben. Nur der Letzte von ihnen fiel aus der Reihe.

Er war der Einzige, dem der Schneider Sachen genäht hatte, dienicht passten. Oder seine Haltung war derart miserabel, dass die Falten und Säume ungünstig fielen.

Wie es sich für einen Spross des Unglaublichen gehörte, wuchsen ihm braune Haare, die er nackenlang trug, und er hatte wenigstens im Ansatz aristokratische Züge; allerdings wölbten sich seine Wangen nach vorne und raubten dem Vornehmen etwas von der Wirkung. Sein Kinnbärtchen, das Markenzeichen des Unglaublichen Rodario und Begründer zahlreicher Dynastien von Schauspielerlegenden in vielen Regionen des Geborgenen Landes, hing traurig herab und wirkte zerzaust.

»Er nennt sich - und ich gebe zu, dass es einfallsloser nicht mehr gehen kann - Rodario der Siebte! Applaus, bitte!« Der Ausrufer hob ruckartig die Arme, um die Menschen anzufeuern, doch das Klatschen erfolgte nur vereinzelt und verstummte rasch. »Bei den Göttern«, meinte Loytan amüsiert. »Welch eine traurige Gestalt unter so vielen Pfauen! Er wird nicht einmal einen Trostpreis gewinnen.«

»Ich finde es... sehr geschickt«, verteidigte Coira ihn auf der Stelle. Sie hatte Mitleid mit dem Rodario-Nachfahren, der eine schon tragische Bekanntheit innehatte. »Er... hebt sich ab.«

»Als das schlechte Beispiel, gewiss.« Loytan lachte laut auf. »Er ist meiner Meinung nach wie in jedem Zyklus der Erste unter den Letzten. Wollen wir wetten, Prinzessin?« Er strahlte sie an, dann sah er an ihr vorbei, und sein Gesicht verlor die Fröhlichkeit. Breite Schatten fielen über sie; Coira drehte sich erschrocken um.

Hinter ihnen hatten von ihnen unbemerkt vier Lohasbrander die Tribüne betreten und waren auf dem Weg zur ersten Reihe. Sie trugen schwere Lamellenrüstungen unter ihren Mänteln, die Helme waren einem Drachenleib mit angelegten Flügeln nachempfunden. Um ihren Hals hing jeweils eine Silberkette mit dem Splitter einer dunkelgrünen Drachenschuppe, das Zeichen ihrer unbestrittenen Macht in Weyurn. Damit standen sie über allem und jedem, außer ihrem Meister.