Coira neigte sich zur Seite und blickte suchend über den Platz, bis sie die Orks entdeckt hatte. Die Kreaturen gehörten zu den Lohasbrandern und waren deren gefügige Diener. Jetzt harrten sie in einer Seitenstraße aus und stopften Fleisch in sich hinein. Wegen der Kälte dampfte es, und sie wollte lieber nicht wissen, ob es rohe warme Brocken oder frisch zubereitetes Kesselfleisch waren. Der vorderste der Männer grinste Loytan an. Er war feist und muskulös zugleich, im breiten Gesicht wucherte ein hellblonder Bart. »Habe ich da eben etwas gehört, was besser unausgesprochen bleiben sollte? Ihr kennt das Gesetz, Graf Loytan von Loytansberg. Es gilt auch oder gerade für Adlige wie Euch.« Er sammelte Rotz im Mund und spie dem jungen Mann einen dicken, grüngelblichen Klumpen ins Gesicht. »Aber ich lasse noch einmal Gnade walten. Ich habe keine Lust, mir die gute Laune zu verderben.« Er polterte die Stufen hinab und setzte sich genau vor Loytan, sodass sein Helm die Sicht auf die Bühne einschränkte. »Ich empfehle Euch, nicht mehr da zu sein, wenn ich mich später erhebe. Solltet Ihr immer noch dasitzen, werde ich die Befehle von Meister Lohasbrand umsetzen.« Seine Begleiter lachten lauthals und nahmen ebenfalls Platz.
»Die erste Disziplin, geschätzte Spectatores, ist bei euch hochbeliebt und möchte zuallererst ausgetragen sein«, rief der weiß gekleidete Mann auf der Bühne weithin hörbar. »Es ist der Wettbewerb der schnellen, bissigen Worte, der vor den Ohren Mifurdanias, dem Ort, an dem der Unglaubliche so lange weilte, beginnen soll.« Er blickte in die Runde und stemmte die Arme in die Hüften. »Oh, man sieht an so manchem Gesicht auf dem Marktplatz, wohin die Ahnin gerne gegangen ist: ins Curiosum ... und zwar hinter die Bühne!«
Die Menge jubelte.
Coira hielt Loytans Hand fest, die an den Gürtel zum Kurzschwert gewandert war. »Nein«, flüsterte sie eindringlich.
Er zitterte vor Zorn am ganzen Körper. »Aber...«
»Du magst ihn vielleicht bezwingen, aber die Orks werden zu deiner Familie gehen und sie abschlachten. Der Drache bestraft alle, nicht nur einen Einzelnen - hast du das in deinem Stolz vergessen?« Coira nahm ihr Taschentuch und wollte ihm den Speichel des Lohasbranders abwischen, aber er wandte sich zur Seite und nahm seinen Ärmel. »Eines Umlaufs wird ihn nichts mehr vor mir retten«, knurrte Loytan. Die Frau ließ ihn vorsichtig los. Die Gefahr war vorerst gebannt. »Überlass die Aufstände anderen«, sagte sie leise. »Menschen ohne Angehörige.«
Er richtete den Blick nach vorn. »Ihr meint diesen feigen Zeilenreimer?«
»Er ist Poet, kein einfacher Dichter und schon gar kein feiger Zeilenreimer. Seine Werke, die er heimlich nachts an den Häusern von Weyurn anschlägt, haben mehr vollbracht als ein Schwert oder ein Pfeil.« Coira hatte die Eifersucht in Loytans Stimme sehr genau vernommen, und dabei war sie unnütz. Er hatte schon lange eine Gemahlin an seiner Seite. Sie selbst betrachtete ihn mehr als großen Bruder und Beschützer. Ihr selbst war bislang niemand begegnet, dem sie ihr Herz und ihre Unschuld hätte schenken wollen.
»Seine Zeilen bringen denjenigen, die ihnen folgen, den Tod«, hielt Loytan prompt dagegen und nickte zum Holzklotz. »Ich sehe die Haare, die im Blut hängen. Die Armen sind geköpft worden, weil sie Freiheit für das Königreich und Eure Mutter gefordert haben.«
»Sprecht noch ein einziges Wort, Loytansberg«, kam es aus dem Mund des Lohasbranders vor ihm, »und Ihr seid der Nächste, der Bekanntschaft mit dem Richtblock macht. Ich will von Eurem Geschwafel nicht weiter belästigt werden, also haltet Euer Maul! Oder ich sorge dafür, dass es sich niemals mehr öffnet.« Wieder lachten seine Kumpane.
Loytan schnaubte und langte nach seinem Becher Wein, nippte daran und schluckte die Erwiderung hinab.
Der Ausrufer auf dem Podest richtete sich auf. »Sodann mögen die Unnettigkeiten fliegen und die Luft zu unserer Erbauung verunreinigen. Rodariosöhne und -töchter, lasst uns hören, was ihr könnt!«
Den Anfang machte eine junge Frau, die sich einen überlangen Schnur- und Kinnbart angeklebt hatte und übertrieben männlich nach vorn an den Rand der Bühne trat; dort blieb sie stehen, fuhr sich über die künstlichen Gesichtshaare und fasste sich in den Schritt. Sie veralberte die Männer mit ihren Gesten ganz ausgezeichnet, was die Spectatores beklatschten.
Abrupt riss sie sich die falschen Barte ab. »Oh, Manneszier, fahr fort von mir!«, rief sie. »Bin Ladenia und Frau, ihr sehts genau, und doch mehr Mann, als mancher von euch es kann.« Sie schritt die Reihe der Rodarios frech grinsend entlang, bis sie vor dem Unerreichbaren angelangt war. »Ihr wolltet den Titel, wurde mir gesagt, und Ihr hättet die besten Aussichten, heißt es. Weil Ihr so schön seid«, sie dehnte das Wort und klimperte mit den Augendeckeln, »weil Ihr so klug seid«, dabei legte sie die Hand an die Stirn, »und weil Ihr mit den meisten Frauen in der Stadt das Lager teiltet, die alle für Euch stimmen werden.« Sie lachte. »Aber ich sehe mehr Männer als Frauen zu unseren Füßen: Ich war wohl besser als Ihr!«
Die Menge rief laut, vielstimmiges Lachen erfüllte die Luft.
»Ihr alle kennt den Witz, in dem ein Ork einen Zwerg nach dem Weg fragt, aber ich kenne einen viel besseren«, rief Ladenia. »Wie viele von den nichtsnutzigen Rodarios hier benötigt man, um einen Ork anzuheben?«
Der Lohasbrander lehnte sich gespannt nach vorn und hatte die linke Hand halb in die Luft gehoben.
Coira sah hinüber zu den Grünhäuten, die umgehend das Fressen eingestellt hatten und ihre Waffen zogen. Eine Katastrophe bahnte sich an. Sobald der Lohasbrander das Zeichen zu Ende führen würde, kämen sie auf den Platz gestürmt und würden das Spektakel beenden. Wegen eines Witzes. Ladenia hatte keine Ahnung, was sie mit ihrem Spaß anrichten konnte.
»Na, was denkt ihr?«, setzte die Frau auf dem Podest nach. »Was ist denn los? Traut sich denn keiner?«
Coira überlegte, wie sie den Lohasbrander ablenken konnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Was sehr schwierig war, denn die Schergen des Drachen freuten sich über eine Gelegenheit, die Tochter der rechtmäßigen Königin ebenso festsetzen zu dürfen. Sie öffnete den Mund, um ihn etwas Belangloses zu fragen, als Ladenia die Auflösung des Witzes gab: »Ich sage es euch: fünf. Vier halten ihn fest, und einer gräbt ein Loch, damit sich die Füße des Orks überhaupt von der Erde wegbewegen! Stemmen könnte das Gewicht keiner von den Hänflingen.«
Coira sah, dass der Lohasbrander die Mundwinkel verzog und den Arm senkte. Es war keine Schmähung, die mit Gewalt bestraft werden musste. Es war nicht einmal ein guter Witz.
Das merkte auch Ladenia, nachdem die bleierne Stille auf dem Platz anhielt. Daraufhin machte sie ein paar schnelle Tanzschritte, drehte sich einmal im Kreis und gab ein Lied zum Besten, bis der Ausrufer nach einigen Schritten auf sie zukam und sie derb an ihren Platz zurückschob.
»Werte Spectatores, wir haben gesehen, dass zumindest diese Nachfahrin sich im ersten Durchgang keine großen Hoffnungen auf den Titel machen darf«, schmetterte er und lachte sie aus.
»Und sie zeigte uns außerdem, dass der Unterschied zwischen Lied und Leid nur zwei verdrehte Buchstaben sind.«
Der Mann wurde mit lautem Lachen für seine bösartigen Kommentare belohnt, und er bedeutete dem nächsten Rodario-Nachfahren, nach vorne zu treten.
Nacheinander traten sie vor und bedachten ihre Mitbewerber auf den Titel »Würdigster Nachfahre des Unglaublichen« mit empörenden Schmähreden, bei denen vor allem jede derbe Boshaftigkeit von den Leuten mit lautem Jubel aufgenommen wurde; nur drei Anwärter versuchten sich in Schöngeistigem und Schwarzhumorigem, was weitaus weniger Anklang beim Volk fand.