Das kleine Bergstädtchen lag unter sengender Sonne. Die Häuser aus rohem Felsgestein klebten an den Berghängen. In den mit Lehm verschmierten Mauerritzen und auf den mit flachen Platten belegten Dächern wucherte Moos. Es roch hier nach Armut, nach Elend.
Nur zwei Gebäude ragten aus der Ansammlung halbverfallener Wohnhöhlen hervor:
Die Kirche mit ihrem schlanken Glockenturm und dem Dach aus glasierten dunkelroten Ziegeln.
Und ein in dieser Umgebung monströs wirkender, dreistöckiger weißer Bau.
Clinica Santa Barbara
So stand es in Goldlettern auf einem Block aus hochglanzpoliertem Carrara-Marmor über dem Portal. Die Residenz des über Nacht berühmt gewordenen Dr. Tezza.
Vor dem Gebäude war der Boden planiert, Parkplatz für fünfzig Personenwagen und sechs Reiseomnibusse. Die Klinik, vor deren Fenstern Blumenkästen mit rosa Kamelien und violetten Bougainvilleen hingen, war offensichtlich aufs große Stoßgeschäft ein-gerichtet.
Weniger das Städtchen.
Nach dem dritten Anlauf gab Karl Haußmann den Versuch auf, in Capistrello eine Unterkunft zu finden.
Sie fuhren die dreizehn Kilometer nach Avezzano zurück. Dort fanden sie drei Zimmer in einem einfachen Gasthaus. Allerdings erst, nachdem Haußmann den fünffachen Preis geboten hatte.
Das reichte, damit der Wirt die Vormieter kurzerhand vor die Tür setzte.
Erika war sehr erschöpft von der Fahrt. Karl Haußmann stützte sie auf dem Weg ins Gasthaus. Frank Hellberg kümmerte sich um das Gepäck.
»Hier sollen wir also hausen«, sagte Marion Gronau, als sie mit Hellberg allein war. »Das ist ja wie in der Steinzeit.«
»Schau mal dort hinüber«, entgegnete er und zeigte zu den Hängen der Simbrunini-Berge. »Alles voller Wein. Dort reift ein guter Tropfen.«
Sie ging nicht darauf ein.
»Wie lange sollen wir hier Urmenschen spielen?« fragte sie.
»Beschwer dich nicht«, erwiderte er schroff. »Du hast es nicht anders gewollt. Oder?«
Vorsicht, dachte sie verblüfft und sah ihn an.
Was hieß das? Was wußte er?
Die Haußmanns fuhren am nächsten Morgen allein nach Capistrello zur Clinica Santa Barbara. Schon im luxuriös ausgestatteten Empfangsbüro wurde Karl Haußmann geschickt nach seinen Verhältnissen ausgefragt. Der Test fiel offenbar günstig aus. Nach kurzer Wartezeit standen Erika und Karl dem sagenumwobenen Arzt gegenüber.
In der Tat ein sehenswerter Mann, dieser Dottore Giancarlo Tez-za. Groß, schlank und braungebrannt war er. Er trug einen schneeweißen Maßanzug. Aus seinem von einem pechschwarzen gestutzten Bart umrahmten Gesicht leuchteten seltsam faszinierende, goldschimmernde Augen.
Er wirkt wie ein Maharadscha, dachte Erika.
Oder wie ein Fakir.
Seinen Augen verdankte dieser Dr. Tezza den Ruf, es sei ihm möglich, ohne Röntgengrät in die Menschen hineinzuschauen und herauszufinden, wo sich die Krankheit verborgen hielt. Vielen Frauen wurde es schwindlig, wenn er seine Augen in die ihren senkte. Viele vergaßen in so einem Augenblick ihre Schmerzen.
Erika Haußmann ließ sich nicht so leicht beeindrucken. Firlefanz, dachte sie und hielt seinem Blick stand, bis er »Si, si« sagte, auf zwei rote Ledersessel deutete und die beiden Besucher zum Sitzen einlud.
»Wir können deutsch sprechen«, sagte er mit leichtem Akzent. »Ich habe zwei Jahre studiert in Deutschland. Ich habe auch gearbeitet mit Professor Bauer, dem berühmten deutschen Spezialisten.«
Erika nickte.
Karl Haußmann zeigte sich tief beeindruckt. Professor Bauer war ihm ein Begriff. Er ahnte nicht, daß Dr. Tezza für jede Nationalität einen besonderen Experten zu nennen wußte. Dr. Tezza ging so weit, den Patienten aus östlichen Ländern zu erzählen, er sei mit Demichow befreundet, dem sowjetischen Chirurgen, dem die Transplantation eines Hundekopfes gelungen war.
»Nun, die Diagnose ist klar?«
Eine rhetorische Frage. Er erwartete keine Antwort. »Nun ja, wer zu mir kommt, weiß, was ihm fehlt.«
Er strich seinen gepflegten Bart und blickte Erika melancholisch an.
»Bene. Gut. Der harten Wahrheit ins Auge schauen und trotzdem zu glauben, das ist eine wichtige Grundbedingung für jede Heilung.«
Erika sah nicht gerade überzeugt aus. Der Arzt fragte sie plötzlich: »Sie glauben doch, daß Sie bei mir in den richtigen Händen sind, Signora. Oder?«
Da Erika zögerte, beeilte sich Karl zu versichern:
»Selbstredend, Dottore. Wären wir sonst gekommen?« »Ihre Frau muß glauben«, sagte Tezza hartnäckig. »Nicht Sie.«
»Ich hoffe«, antwortete Erika leise. »Ich hoffe, obwohl die Röntgenaufnahmen...«
Dr. Tezza unterbrach sie mit großer Geste.
»Himmel, Maria, ich brauche keine Röntgenbilder. Die wenigsten Ärzte verstehen es, sie richtig zu lesen. Die Seele ist der Spiegel des Körpers. Ich erkenne die Seele in den Augen. Und ich weiß, was dem Menschen fehlt. Seele und Krankheit, das sind siamesische Zwillinge. Machen wir die Seele gesund, hilft sich der Körper selbst.«
Dr. Tezza nahm hinter einem gewaltigen Schreibtisch Platz, zog einen goldenen Füllhalter hervor und schlug ein in Leder gebundenes Buch auf.
»Beginnen wir also mit der Anamnese.«
Nachdem dieses Verhör über die Vorgeschichte der Erkrankung beendet war, wurde Karl Haußmann hinausgeschickt. Zwei außerordentlich hübsche Assistentinnen erschienen. Mit ihrer Unterstützung wurde Erika untersucht.
Gründlicher, als sie es nach den phrasenhaften Vorreden erwartet hatte.
Sie mußte sich völlig entkleiden. Der Arzt horchte, tastete ab und palpierte. Zwischendurch diktierte er. Kurze, schnelle Sätze auf italienisch. Eine der Assistentinnen trug sie in das ledergebundene Buch ein.
Natürlich ertastete Dr. Tezza sofort die Verhärtung im Unterbauch. Aber sein Gesicht blieb regungslos.
Nach zwei Stunden durfte Erika sich wieder anziehen. Sie wurde in ein Labor geführt, wo man ihr Blut abnahm und Abstriche aus dem Rachen und von ihrer Zunge machte.
Dr. Tezza hatte unterdessen Karl Haußmann zu sich hereinbitten lassen.
»Nun, Dottore!« rief Haußmann schon in der Tür. »Dürfen wir hoffen?«
»Sie müssen hoffen. Wir leben von der Hoffnung«, sagte Tezza tiefsinnig. »Die Hoffnung aufgeben, hieße, sein Leben wegwerfen.«
Nach einer effektvollen Pause fuhr er fort:
»Ich werde die Behandlung Ihrer Frau übernehmen. Zunächst möchte ich Ihnen raten, mit drei bis vier Wochen zu rechnen. In zwei Tagen habe ich ein Bett frei, einverstanden?«
»Natürlich, Dottore, selbstverständlich.« Karl Haußmann rieb nervös die Hände. Wo mochte Erika sein? Was tat man mit ihr? Ob man ihr Schmerzen bereitete?
»Nun zu einem anderen Punkt«, sprach Tezza mit leicht erhobener Stimme, Aufmerksamkeit fordernd.
»Die Kosten der Kur.«
Karl Haußmann winkte ab. »Lieber Dottore, das Geld ist nicht wichtig. Hauptsache, meine Frau wird gesund. Wenn Sie ihr eine Chance geben.«
»Jeder Mensch hat seine Chance. Und Ihre Frau ist doch das blühende Leben. Sie besitzt die notwendige Widerstandskraft. Es gilt nur, sie zu mobilisieren.«
Haußmann nickte. Er glaubte, weil er glauben wollte. Er nahm die Phrasen als Offenbarung, die vagen Versprechungen als Verheißung. Ihm war, als hätte er ein Geschenk empfangen, als er einen Scheck über 2.000 Mark ausschreiben durfte.
Als Anzahlung.
»Wenn Sie meine Frau gesund machen, dann stifte ich fünfzigtausend Mark, Dottore«, sagte er mit bewegter Stimme.
Erika wurde gerade hereingeführt, als Dr. Tezza den Scheck in seine Brieftasche steckte.
»In drei Tagen also«, sagte er. »Ich gebe Ihnen prophylaktisch ein Röllchen Tabletten mit, Signora, falls stärkere Schmerzen auftreten sollten. Es sind Tabletten aus meinem eigenen Labor.«
Er reichte sie Erika.
»Zwei Stück in etwas Wasser. In zehn Minuten sind Sie die Schmerzen los.«