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Erika stellte das Glas ab, überlegte, spülte es dann aus und legte sich ins Bett. Noch spürte sie nichts, im Gegenteil, ihr Herz schlug rasend.

So ist also mein Ende, dachte sie. Das ist mir von meinem Leben übriggeblieben: Ein selbstgewählter Tod in einem spärlichen Gastzimmer einer Pension in Avezzano. So klein und elend kann eine glückliche Welt werden.

Dann wurde sie müde und schlief ein.

Auf leisen Sohlen, in den Samtschuhen des Traumes, kam der Tod zu ihr.

Karl Haußmann saß in der Gaststube und trank Wein. Einen goldroten, süßen, schweren Wein. Er kannte ihn nicht und ahnte nicht seine Tücken. Er merkte nur, wie glatt der Wein ins Blut ging und seine Aufregung glättete. Und das brauchte er. Er hatte in ein paar Minuten erlebt, wie der ganze Plan seiner Italienreise zusammenbrach. Frank Hellberg zeigte seine Sympathie zu Claudia so deutlich, daß Marion mit verbissenem Gesicht auf ihr Zimmer ging. Kurz darauf zogen sich auch Hellberg und Claudia zurück, und Karl blieb allein mit seinem Wein und seinem vielschichtigen Kummer.

Nach Bari, dachte er und sah den goldroten Wein. Zum >Schiff der Hoffnung<. Ist das nicht auch wieder ein Trugbild, eine Illusion, ein Strohhalm, der schnell bricht? Ein Wundermittel gegen Krebs. Gibt es denn noch Wunder? Soll man Erika diese anstrengende Fahrt überhaupt noch zumuten? Wäre es nicht besser, gleich zurück nach Deutschland zu fahren? War dieser Dr. Tezza nicht Warnung genug?

Fragen über Fragen. Und dann die persönlichen Probleme. Die offensichtlich echte Liebe Marions. Das Mädchen Claudia. Die kommende Auseinandersetzung zwischen Marion und Hellberg. Ein Gebirge von Problemen.

Haußmann sah nicht auf die Uhr, als er aufstand, aber er spürte, wie er schwankte und wie der süße, schwere Wein wie Blei in sein Gehirn drang. Mühsam tappte er die Treppe hinauf, suchte nach dem Zimmerschlüssel, den ihm Erika mitgegeben hatte, fand nach längerem Stochern das Schlüsselloch, ging hinein und zog sich aus. Er warf noch einen Blick auf Erika. Sie lag auf der Seite, schlief ruhig und fest und rührte sich nicht.

Morgen fahren wir, Rika, dachte Karl und zog die Decke über sich. Du sollst nicht sagen, ich hätte für dich nicht jede Chance wahrgenommen. Dann überschwemmte der Alkohol völlig sein Bewußtsein. Fünf Minuten später schnarchte er.

Zwei Zimmer weiter hatte sich in den vergangenen zwei Stunden ein nur äußerlich höflicher, haßerfüllter Kampf zugetragen.

Marion lag schon im Bett, als Claudia ins Zimmer kam. Vom Flur her hörte sie den geflüsterten Abschied zwischen Frank und dem italienischen Mädchen. Sie küssen sich, dachte sie wütend. Jetzt küssen sie sich.

Dann kam Claudia herein.

»Guten Abend«, sagte sie.

»Guten Abend.« Marion legte das Buch weg, in dem sie gelesen hatte. »Eine romantische Nacht, nicht wahr?«

Claudia blieb an der Tür stehen. »Herr Hellberg schlug vor, daß ich diese Nacht hier schlafe. Nirgendwo ist etwas frei. Aber, wenn es Ihnen nichts ausmacht, rücke ich einen Stuhl ans Fenster und warte dort den Morgen ab. Ich will Sie nicht stören.«

»Sie stören nicht.« Marion drehte sich zur Wand. »Das Bett ist breit genug für zwei.«

Wenig später schlüpfte Claudia unter die Decke. Sie hatte kalte Füße, und sie war so zart, daß Marion kaum ihre Gegenwart spürte. Aber das war es nicht . das Bewußtsein, neben einem Mädchen zu schlafen, das Frank Hellberg durch ihre engelhafte Art zu erobern begann, machte das Bett eng und nahm Marion fast die Luft. Es war ihr, als lägen Zentner neben und auf ihr.

Nach Mitternacht, die Glocken der Kirche von Avezzano hatten sie eingeläutet, hielt es Marion nicht mehr im Bett. Es kribbelte über ihren ganzen Körper wie von Tausenden von Ameisen. Vorsichtig stieg sie über die tief schlafende Claudia aus dem Bett, zog ihren Bademantel an und stellte sich ans Fenster. Die Luft war kühl und rein und herrlich für die erhitzten Nerven. Ein paarmal sah Marion zu Claudia hinüber. Ihr Gesicht war wie aus Porzellan. Sie hatte noch nie etwas so Zerbrechliches und Schönes gesehen.

Gegen ein Uhr verließ Marion das Zimmer. Sie hatte vor, zu Frank hinüberzugehen und wenigstens bei ihm eine Entscheidung zu erzwingen. Es war nicht die erste Nacht, die sie beisammengewesen wären, aber es würde die entscheidende Nacht werden. Die Ausschaltung der elfenhaften Claudia.

Auf dem Wege zu Franks Zimmer kam sie an Haußmanns Zimmer vorbei. Der Schlüssel steckte von außen im Schloß, und die Tür war nur angelehnt. Marion blieb erstaunt stehen, schob die Tür dann einen Spalt breiter auf und sah hinein.

Karl lag auf dem Rücken und schlief mit rasselndem Atem. Neben ihm aber hing Erika halb aus dem Bett. Ihr Kopf lag fast auf dem Fußboden, die Arme pendelten über der Bettkante. Ihr Gesicht

war leichenblaß, die Augen halb geöffnet.

Marion stieß einen leisen Schrei aus, schlüpfte ins Zimmer, hob Erika ins Bett zurück und legte die Hand auf ihre Stirn. Sie war kalt und blutleer. Marion riß das Hemd über Erikas Brust auf, drückte das Ohr auf das Herz ... es schlug noch, aber es war kaum hörbar. Es war wie das letzte, zaghafte Ticken einer Uhr, deren Feder abgespult ist.

»Karl!« schrie Marion und rüttelte Haußmann an den Schultern. »Karl! Wach' auf!Wach' auf!« Haußmann grunzte im Schlaf, aber Marion ließ ihm keine Ruhe. Sie rüttelte so lange, bis Karl im Bett auffuhr und sich die Augen rieb.

»Marion.«, stammelte er entsetzt. »Bist du verrückt?«

»Deine Frau. Karl!«

Karl sah zur Seite. Dann sprang er mit einem Satz aus dem Bett. »Erika!« rief er. »Mein Gott! Mein Gott! Was hat sie bloß getan?« Er rannte im Zimmer herum, kopflos, während Marion versuchte, Erika Wasser zwischen die bleichen Lippen zu gießen. Dann sah er das leere Röhrchen auf der Erde liegen und wußte, was geschehen war.

»Einen Arzt!« rief Haußmann. »Sofort einen Arzt!« Er rannte hinaus auf den Flur und rief so lange, bis der Gastwirt erschien und Hellberg hinunterrannte zum Wagen.

Der alte Landarzt von Avezzano erschien wenig später, von Hellberg geholt, im Schlafanzug. Seine Anzughose hatte er einfach darübergezogen. Er brachte ein vorsintflutliches Magenauspumpgerät mit: einen dünnen, roten Gummischlauch, einen verbeulten Irrigator, drei große Spuckschalen.

»Nein, so etwas!« sagte er immer wieder. »So etwas! Solche Dummheit!«

Erika wurde im letzten Augenblick gerettet. Über vier Liter entgiftende Flüssigkeit pumpte der Arzt in Erikas Magen und pumpte sie wieder heraus. Dann gab er ihr zwei starke Kreislaufinjektionen und massierte das Herz. Als wieder etwas Farbe in Erikas leichenblasses Gesicht kam, lehnte sich der alte Arzt erschöpft zurück und nickte Haußmann zu.

»Bene.«, sagte er.

»Ich danke Ihnen, Doktor.« Karl zitterten die Knie. Mehr konnte er nicht sagen. Was er in der letzten halben Stunde mitgemacht hatte, war nicht in Worten auszudrücken.

»Legen Sie sich hin, Herr Direktor«, sagte Marion, als der Arzt gegangen war. »Ich bleibe bei Ihrer Frau und halte Wache.«

»Das kann ich nicht verlangen«, stotterte Karl.

»Verlangen nicht. Aber ich tue es.«

»Sie haben es entdeckt.« Karl schluckte mehrmals. »Ihnen verdanke ich die Rettung meiner Frau.«

»Reden wir nicht mehr davon.« Marion setzte sich an die Bettkante. »Ruhen Sie sich jetzt aus.«

»Sie können in meinem Zimmer schlafen.« Frank Hellberg stand am Fenster. »Ich bleibe auch hier.«

»Danke. Ich . ich bin völlig durcheinander.«

Hellberg wartete, bis Karl das Zimmer verlassen hatte. Dann trat er hinter Marion und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Du bist besser, als du aussiehst«, sagte er leise.

Marion verstand ihn. Er schien das Doppelspiel durchschaut zu haben.

»Man täuscht sich oft«, antwortete sie.

Erika schlief drei Tage lang. Zweimal täglich kam der alte Arzt, gab ihr eine Kreislaufspritze, schimpfte über den Lumpen Tezza und trank auf Kosten Haußmanns nach der Konsultation einen Liter Rotwein in der Wirtschaft.