Mit einem Ruck wandte sie sich um und rannte davon, die Via Piccinni hinunter.
»Claudia!« schrie Hellberg. »Claudia! Warte!«
Aber sie blieb nicht stehen, sondern rannte weiter. Ihr Haar wehte wie eine zerzauste Fahne.
»Lauf!« sagte Marion leise. »Lauf schon, Frank! Ich weiß ja, wie es um dich steht!«
Und Frank Hellberg lief hinterher, holte Claudia an der Ecke der Via de Rossi ein, faßte sie unter, küßte sie vor allen Leuten auf den Mund und sagte:
»So etwas Dummes, mein Mädchen! Als ob ich dich von jetzt ab jemals allein ließe!«
Karl Haußmann und die anderen sahen den beiden nach, wie sie in der Menge der Spaziergänger verschwanden. Marion war etwas blaß geworden, aber sie trug den Schlag mit Fassung.
»Nun haben sich die Gruppen gebildet!« sagte Karl und schloß seinen Wagen ab. »Frank und Claudia sehen wir erst in Sarajewo wieder.«
»Hoffentlich.« Erika sah immer noch die Straße hinunter, die die beiden entlanggerannt waren. »Ich habe Angst um sie. Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl.«
»Ich habe volles Vertrauen zu Frank.« Haußmann faßte seine Frau unter. »Und jetzt wollen wir unsere Fahrkarten holen, auch wenn sie erst in 3 Wochen gültig sind. Ich glaube nicht daran ... wenn alle nach Sarajewo fahren, wäre die Stadt jetzt schon so groß wie Dortmund. Du sollst sehen, es geht schneller als befürchtet. Also los denn!«
Erika blieb stehen, noch immer die Via Piccinni hinunterblickend. »Wir sollten sie zurückholen«, sagte sie leise. »Mein Gefühl. Ich habe Angst um sie.«
»Frank ist in Judo ausgebildet«, sagte Marion.
»Judo!« Erika strich sich nervös über ihr kastanienbraunes Haar. »Was nutzt das, wenn man ein Messer in den Rücken bekommt?«
Der Reporter der >Gazetta Bari<, Enrico Sampieri, empfing seinen deutschen Kollegen mit südländischem Temperament.
»O Kollege!« rief er. »Sie haben sich einen Engel geholt!« Er küßte Claudia die Hände und schüttelte Hellberg an den Schultern. »Eine Tragik ist das; unsere schönsten Mädchen holen die Fremden weg. Ein Glück nur, daß so viele blonde Signorinas im Sommer nach Italia kommen, um dolce amore bei uns zu genießen.«
So ging es über zehn Minuten, bis Frank auf das eigentliche Thema kam. Enrico Sampieri wurde nachdenklich.
»Das ist ein heißes Eisen, Kollege! Ich spreche nicht gern darüber. Nicht einmal geschrieben habe ich darüber. Sie wissen, was das für einen Journalisten heißt! Da liegt Gold im Dreck, und man darf es nicht aufheben, weil einem das schöne Leben zu lieb ist! Es lebt sich nicht gut mit Blei im Körper.«
»So heiß?« fragte Hellberg zweifelnd.
»Heißer als die Hölle, mein Freund.« Sampieri winkte ab. »Laß das Mädchen warten auf den neuen Paß, das ist sicherer.«
»Es kann Wochen dauern!«
»Und es kann Sekunden dauern und Sie sind ein Reporter der >Himmlischen Tageszeitung<.«
»Trotzdem!« Frank Hellberg sah seinen italienischen Kollegen bittend an. »Sie brauchen als Informant gar nicht aufzutreten. Ich will das Ding allein machen.«
»Das klappt überhaupt nicht!« Enrico Sampieri trat ans Fenster. Er wohnte in einem alten Fischerhaus am Ende der Piazza Mercantile, das man renoviert und rosa angestrichen hatte. Vom Fenster aus konnte er über den Fischerhafen blicken, über die Molo S. Antonio, den Porto Vecchio und die Molo S. Nicola. Unzählige kleine Boote lagen hier an den Quais und schaukelten im seichten Wasser. Aber auch weiße, luxuriöse Jachten glänzten in der Sonne. Visitenkarten des Reichtums.
»Wenn, dann muß ich mit«, sagte Sampieri. »Und ich muß Ihren Eid haben, daß Sie in Deutschland nie darüber schreiben werden. Tun Sie es doch, werden Sie damit zu meinem Mörder . denn das kostet mich das Leben!«
»Ich schwöre es Ihnen, Enrico.« Hellberg streckte seine Hand aus. »Ich will keinen Sensationsknüller daraus machen. Ich will nur, daß Claudia gesund wird.«
»In Ordnung.« Sampieri sah auf seine goldene Armbanduhr. »Wir müssen noch zwei Stunden warten. Dann mache ich Sie mit Umberto Saluzzo bekannt.«
»Saluzzo? Wer ist das?«
»Der einzige, der Ihnen wirklich helfen kann, wenn er will.« Enrico Sampieri zündete sich eine Zigarette an. Er war sichtlich nervös. »Ein vollendeter Gentleman - und ein ebenso vollendeter Teufel.«
»Sie machen mich wirklich neugierig auf diesen Umberto Saluzzo«, sagte Frank Hellberg und blickte hinaus auf das Gewimmel im Hafen. Fischerboote fuhren zum Fischmarkt, die Netze vom Nachtfang wurden zum Trocknen an langen Stangen aufgehängt. Auf dem Betonboden einer Bootanlegestelle schlug ein junger Fischer einen Tintenfisch weich. Die Fangarme sausten durch die Luft und klatschten dann auf den Boden, als knallten zehn Peitschen auf einmal.
»Neugier ist das letzte, was Sie haben sollten!« sagte Sampieri. »Es ist am besten, Sie fragen so wenig wie möglich. Er liebt es, selber zu reden, und erwartet, daß die anderen zuhören. Außerdem ist es fraglich, ob er Sie mitnimmt.«
»Wir wollen das Beste hoffen.«
Die zwei Stunden Wartezeit verbrachten sie dann im Restaurant >Adriatica< auf dem Ende der Molo S. Nicola. Sie saßen an sauberen, gelb gedeckten Tischen hinter einer riesigen gläsernen Wand und sahen hinaus aufs Meer, auf den Porto Vecchio, auf die Molo S. Antonio mit dem kleinen Leuchtturm und hinüber zur Altstadt mit der Kathedrale und dem wehrhaften Castello. Kellner mit Servierwagen voll Früchten, Eierspeisen, gefüllten Tomaten, Reisallerlei, Tintenfischen, Muscheln und kleinen, in Öl gebackenen Fischen umringten sie. Aber sie hatten kaum Appetit, aßen nur ein paar Kleinigkeiten und tranken einen leichten Rosewein.
In den Hafen fuhr nach über einer Stunde, von Süden kommend, eine herrliche, weiße Motorjacht ein. Majestätisch glitt sie zwischen den kleinen und schmutzigen Fischerbooten in den Porto Vecchio, und die Ruderkähne, die in ihrem Kurs lagen, machten schnelle Bewegungen, um das Wasser für das weiße Schiff freizumachen. Die Sonne spiegelte sich in den blanken Fenstern der Deckaufbauten.
»Da kommt Saluzzo«, sagte Sampieri und nahm einen tiefen Schluck Wein.
»Geld hat er.« Hellberg und Claudia sahen zu dem herrlichen Schiff. Ein Mann in weißem Anzug stand neben der Brücke, auf dem Kopf eine goldbestickte Kapitänsmütze. »Ist er das?«
»Nein. Das ist Luigi Foramente, im wahrsten Sinne des Wortes die rechte Hand Saluzzos, denn er allein hat das Seepatent und kann einen solchen Kahn fahren. Ein Gauner, wie er in Romanen steht, aber ein kleiner, schmieriger Gauner, der vom Abglanz des großen Saluzzo lebt. Es ist schon eine herrliche Besatzung!«
»Wovon lebt Saluzzo eigentlich?«
»Von allem. Er bezahlt die höchsten Steuern in der ganzen Provinz, freiwillig, und deshalb fragt ihn auch keiner, woher das Geld kommt. Solange es fließt und fließt und die Kassen füllt, ist Saluzzo ein geachteter Mann. Außerdem hat man Angst, daß er ein Mafioso ist.«
»Auch das noch!« Es war Claudia, die es sagte. Für sie als Italienerin war die Mafia ein fester Begriff. Sie schauderte und starrte auf die weiße Jacht, die lautlos in den alten Hafen glitt.
»Saluzzo handelt offiziell mit Teppichen«, sagte Sampieri und strich sich nervös über die schwarzgelockten Haare. »Aber niemand kann sich erinnern, Saluzzo jemals mit einem Teppich gesehen zu haben.« Sampieri erhob sich, winkte dem Oberkellner und ließ Hellberg für sie alle zahlen. »Gehen wir, Freunde.« Und draußen, auf der Molo S. Nicola, blieb er noch einmal stehen und sah Hellberg fest in die Augen. »Was ich tue, mein Lieber, ist gegen meine Überzeugung, das muß ich noch einmal betonen. Ich mache Sie mit Saluzzo bekannt, alles andere ist Ihre Sache! Machen Sie mich später nicht für Dinge verantwortlich, die Ihnen an die Leber gehen können. Ich weiß von nichts, und ich habe Sie auch nie mit Saluzzo zusammengebracht.«