»Was haben Sie vor, Signore Hellberg?«
»Wir werden wohl doch auf Claudias neuen Paß warten müssen.«
»Ich werde zurück nach Livorno fahren«, sagte Claudia. »Vielleicht arbeiten die Behörden schneller, wenn sie sehen, wie es um mich steht.«
»Ich glaube, Sie haben eine völlig falsche Auffassung von den Dingen«, erklärte Saluzzo. »Sie fahren ja umsonst, Signorina.«
»Ich fahre nicht ohne Frank.«
»So ist es.« Hellberg zog Claudia eng an sich. »Ich lasse Claudia nicht allein.«
»Ein edler Mensch!« Saluzzo sah auf seine goldene, mit Brillanten verzierte Armbanduhr. »In einer halben Stunde essen wir. Ich hoffe, daß Ihnen mein Koch gefällt. Ich will, daß sich meine Gäste an Bord wohl fühlen wie im besten Grandhotel.«
»Gehen wir!« sagte Hellberg und zog Claudia mit zur Tür des Salons. Verrückte muß man durch Taten überzeugen, dachte er. Sie müssen die Stärke des anderen anerkennen. Darin sind sie wie Raubtiere, die ihren Herrn sehen müssen.
»Um Ihr Gepäck brauchen Sie sich nicht zu kümmern«, sagte Sa-luzzo gemütlich und lächelte wieder. »Es ist bereits an Bord.«
»Wer hat Ihnen.«, rief Hellberg laut, aber Saluzzo ließ ihn nicht aussprechen. Er winkte lässig ab. »Sampieri ist ein guter Informant. Während wir miteinander plauderten, haben zwei meiner Matrosen Ihr Gepäck abgeholt. Kabine 4 und 6 ist reserviert. Aus Gründen der Moral sind es zwei Einzelkabinen, die sich gegenüberliegen.« Saluzzos Lächeln war plötzlich schleimig. »Mir liegt die Gesundheit von Signorina Claudia sehr am Herzen.«
Hellberg atmete tief auf. Ruhe, sprach er sich zu. Nur Ruhe. Denk an Sampieri! Auch sein Leben hängt von deinen Reaktionen ab. Dieser Saluzzo ist gar kein Verrückter; er ist der eiskälteste Verbrecher, den man sich vorstellen kann. Ein vollendeter Teufel. Sampieri hatte recht.
»Ich verlange, daß unser Gepäck zurück an Land gebracht wird«, sagte Hellberg scharf.
»Umberto Saluzzo hat noch nie in seinem Leben eine Handlung rückgängig gemacht.«
»Dann fangen Sie heute damit an.«
»Warum? Gefällt es Ihnen nicht an Bord? Ich sehe in Ihnen reizende Gäste.« Und wieder der Blick zu Claudia. Dieser deutliche, abtastende Blick, unter dem das Kleid Claudias wegschmolz, als habe man es versengt.
»Ich zahle Ihnen keine Lire.«
»Einverstanden. Ich lade Sie ein zu einer Fahrt nach Dubrovnik.«
»Ich habe meinen Plan geändert. Wir fahren nach Deutschland.«
»Zu spät, Signore Hellberg.« Ein leises Zittern lief durch das herrliche, weiße Schiff. Irgendwo brummte es leise. Wasser schlug gegen die Wände. »Wir fahren bereits.« Saluzzo erhob sich und trat an eines der großen Fenster. »Mir wird durch den Gestank auf dem Fischmarkt übel. Deshalb habe ich die Angewohnheit, außerhalb des Hafens, auf freier See, zu essen. Für die Signorina gibt es das zarteste Hühnchen, das je einen Backofen verlassen hat.«
Hellberg war mit zwei großen Schritten ebenfalls an einem der Fenster. Die Jacht schob sich wirklich langsam wieder aus dem Hafen hinaus, die Fischerboote und Kähne wichen erschrocken aus, ein Polizeiboot fuhr vorbei und grüßte mit dreimaligem Sirenengeheul. Resignierend wandte sich Hellberg ab.
»Dann bitte ich, daß Sie uns nach dem Essen wieder an Land bringen«, sagte er energisch.
Saluzzo hob die Schultern. »Wer weiß, was nach dem Essen ist«, antwortete er. »Dann haben wir uns schon aneinander gewöhnt.«
Glück muß der Mensch haben, heißt eine billige Weisheit. Ohne Glück kann man sogar beim Zähneputzen ertrinken. Man mag das, was Karl und Erika Haußmann an diesem Tag in Bari erlebten, ein ganz, ganz großes Glück nennen - und doch war es ein salziges Glück, über das man sich nicht laut freuen konnte.
Es begann damit, daß Erika, Marion und Karl nach der Verabschiedung von Hellberg und Claudia hinunter zum Hafen gingen in der Absicht, sich um die Schiffskarten zu kümmern. Als sie die lange Menschenschlange an den Schaltern sahen und von einem Polizisten hörten, daß Personenkarten noch zu haben, die Wagenplätze auf dem Autodeck jedoch für drei Wochen durch Vorbestellungen ausgebucht seien, stellte sich Karl Haußmann erst gar nicht bei der Schlange an.
»Schlange gestanden habe ich 1946 für 150 Gramm Brot genug«, sagte er und setzte sich auf eine Bank. »Wir sollten uns überlegen, ob wir den Wagen nicht hier lassen und drüben in Jugoslawien mit Bus oder Eisenbahn nach Sarajewo fahren. So schlimm kann das nicht sein. Schließlich ist es ja ein kultiviertes Land.«
»Ich überlasse es dir, Karl.« Erika Haußmann blickte hinüber zu einem Wohnwagen, der abseits zwischen zwei Güterschuppen parkte. Die Vorhänge vor den beiden Fenstern waren dicht zugezogen.
Neben der geschlossenen Eingangstür saßen zwei Frauen auf zusammenklappbaren Schemeln und beteten.
»Kannst du die Strapazen durchhalten?« fragte Karl.
»Ich weiß es nicht. Im Augenblick fühle mich mich ganz wohl.«
»Ich finde den Vorschlag nicht gut«, meinte Marion Gronau. »Wir müssen mit dem Wagen rüber. Wissen wir, was wir in Sarajewo antreffen? Solange wir den Wagen bei uns haben, sind wir unabhängig und beweglich. Und das kann uns unter Umständen viel nutzen.«
Haußmann wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Also gut, stellen wir uns an. In drei Wochen! Verdammt noch mal... was sollen Hellberg und Claudia in dieser Zeit machen? Wenn man wüßte, wo sie jetzt sind.«
»Ich setze voraus, daß wir uns um Frank keine Sorgen zu machen brauchen.« Marions Stimme schwankte etwas, und plötzlich tat sie Erika leid. Dieses Mädchen mochte ein kleines Aas sein, doch hatte sie auf dieser Reise an jedem Tag einen Schlag einstecken müssen - vom mißglückten Rimini bis zur Einsicht, daß zwei Männer, die in ihrem Leben eine Rolle spielen sollten, eigene Wege gingen und sich immer mehr von ihr entfernten. »Frank wird völlig selbständig handeln.«
»Wenn er klug ist.« Haußmann erhob sich ächzend. »Also ran an die Schlange! Kinder, holt mir wenigstens jede halbe Stunde ein Eis und macht mich frisch.«
Das klang alles sehr fröhlich, aber jeder von ihnen wußte, wie bitter die Tage sein würden, die man wartend in Bari verbringen mußte. Würde Erika neue Schmerzen haben? Erlitt sie einen neuen Anfall? Waren die drei oder gar vier Wochen Wartezeit vielleicht ein Todesurteil für Erika? Wußte man, wie schnell die tückische Krankheit im Körper wuchs und wann sie das Leben bedrohte? War es nicht besser, nach Deutschland zurückzukehren und die Krankheit in einer großen Klinik von Fachärzten behandeln zu lassen? Sollte man auf dieses >Schiff der Hoffiiung< nicht ganz verzichten? Auch auf das geheimnisumwitterte HTS des jugoslawischen Arztes Dr.
Zeijnilagic. Wer war dieser Mann überhaupt?
Aber dann dachte Karl Haußmann an das, was er bereits über dieses neue >Wundermittel< wußte. Die Heilung von nachweisbaren Krebskranken, bei einer Ärztin sogar, die Brustkrebs hatte und aufgegeben worden war von allen Kollegen, und die jetzt, nach der Behandlung mit HTS, wieder Dienst im Krankenhaus tat, gesund wie nie zuvor.
Märchen? Propaganda? Wirkliche Wunder? Die so seltenen Spontanheilungen, die jeder Mediziner kennt und nicht zu erklären weiß? Wo war hier Wahrheit, wo Sensationsmache? Gab es für Erika eine Rettung?
Wir haben die Hoffnung, dachte Haußmann. Wir wollen alles tun, was auf Erden möglich ist. Nie soll der Vorwurf laut werden: Du hast eine Möglichkeit ausgelassen! Du bist an einem Wunder vorbeigegangen.
»Gehen wir!« sagte er mit fester Stimme. »Wir sind ja nicht allein. Die anderen warten genauso wie wir.«
Auf dem Weg zur Kartenverkaufsstelle kamen sie auch an dem abseits stehenden Wohnwagen mit den zwei betenden Frauen vorbei. Das Auto hatte eine griechische Nummer, und die Frauen, die im Gebet versunken auf ihren Schemeln hockten, trugen die klagende, schwarze Tracht griechischer Bäuerinnen.
Gerade, als Karl Haußmann an dem Wohnwagen vorbeiging, öffnete sich die Tür, und ein Mann trat auf die Straße. Für einen Sekundenbruchteil sah man im Innern des Wagens eine lang ausgestreckte weibliche Gestalt mit schwarzen Haaren, die bis auf den Boden hingen, und einem spitzen, weißen, wie aus Marmor gehauenen Gesicht. Der Mann zog die Tür schnell wieder hinter sich zu, rückte an seinem schwarzen Schlips und sagte etwas zu den schwarzgekleideten Frauen. Diese senkten den Kopf noch tiefer, und ihr Betgemurmel schwoll an zu einem gleichförmigen Klagegesang.