Was würde er sehen, wenn die Tür aufschwang? Welche Teufelei verbarg Saluzzo in diesen kleinen Zellen? Wen hielt er dort gefan-gen? Und warum?
»Bitte!« sagte Saluzzo und öffnete die Tür. Geblendet wich Hellberg an die Gangwand zurück. Die Lichtfülle, die ihm entgegenflutete, war zu stark. Viel stärker als die normale Flurbeleuchtung.
Er sah mit blinzelnden Augen, die sich langsam an das Licht gewöhnten, zunächst nur die Einrichtung eines Salons in Weiß-Gold. Rokokomöbel, Gobelinbezüge, Damastvorhänge, eine Seidentapete und an der holzgetäfelten Decke einen Kristalleuchter, der das starke Licht ausstrahlte. Ein dicker, englischer Blumenteppich bedeckte den Boden.
»Ich glaube nicht, daß deutsche Zuchthäuser solche Zellen haben«, sagte Saluzzo spöttisch. »Die Tür ist zwar konservativ, aber die Einrichtung wird Sie überzeugen, daß ich kein Unmensch bin.«
»Und wer lebt in diesem goldenen Käfig?« Hellberg kam langsam auf die Tür zu. »Wer schreit da so entsetzlich und aus höchster Not?«
»Das eben sollen Sie feststellen . warum man schreit!« Saluzzo winkte. »Kommen Sie schneller, Hellberg. Hier ist kein Ungeheuer, das plötzlich hervorbricht.«
Hellberg atmete tief auf. Dann machte er einen großen Schritt, ging an Saluzzo vorbei und betrat das luxuriöse Gefängnis.
Überrascht und betroffen blieb er stehen, wischte sich verwirrt über die Augen und sah sich dann fragend nach Umberto Saluzzo um.
Auf einem Bett, das mit einem Überwurf aus echten Leopardenfellen abgedeckt war, lag ein wunderschönes Mädchen. Die langen, schwarzen Haare hingen wie ein Schleier über dem schlanken Körper, den nichts bedeckte als ein kurzes, durchsichtiges Spit-zenhemdchen. Als das Mädchen die beiden eintretenden Männer sah, kroch es auf dem breiten Bett bis zur Wand, zog die Beine an und starrte Hellberg aus flackernden, halb wahnsinnigen Augen angstvoll an.
»Wer ist denn das?« fragte Hellberg atemlos. Der Luxusraum, die strahlende Beleuchtung und auf dem Leopardenbett ein Mädchen von solcher Schönheit, wie er sie nur aus Kunstdruckjournalen kann-te - das alles verwirrte ihn einen Augenblick. Umberto Saluzzo hinter ihm lachte leise.
»Ein herrliches Raubtier, was?« sagte er stolz. »Der Brillant in meiner Kollektion.«
»Kollektion.«, wiederholte Hellberg tonlos. Das Mädchen auf dem Fellbett starrte ihn durch den Vorhang ihrer schwarzen Haare an. Als Hellberg einen Schritt weiter in die Kabine trat, hob sie beide Hände zur Abwehr und begann wie ein getretener Hund zu wimmern.
»Fragen Sie sie, was sie hat.« Saluzzo stieß Hellberg leicht in den Rücken. »Sie hat alles, was sie braucht, Sie sehen es ja - und trotzdem benimmt sie sich wie eine Irre!«
»Wer ist die Dame?« fragte Hellberg leise.
»Juanita Escorbal . ich erzähle Ihnen nachher mehr. Erst zeigen Sie mal, wie gut Sie spanisch sprechen.«
Frank Hellberg setzte sich auf einen der Gobelinsessel und schüttelte den Kopf, als Juanita noch mehr in sich zusammenkroch. »Keine Angst«, sagte er auf spanisch. »Ich komme als Ihr Freund, Se-norita Escorbal.«
Das Mädchen schob die Haare aus den Gesicht. Ihre Schönheit ergriff Hellberg, mehr aber noch erschütterte ihn ihr gehetzter Blick. Ihre großen, fast schwarzen Augen schienen leergeweint. Geblieben waren Angst und Hoffnungslosigkeit.
»Sie lügen«, sagte Juanita Escorbal. Sie hatte eine warme, melodische Stimme und sprach ein äußerst gepflegtes Spanisch. »Auch Sie gehören zu diesem Schiff! Sie wollen mich nur in Sicherheit wiegen. Sie sind wie die anderen.«
»Ich bin selbst Gefangener.« Frank Hellberg beugte sich im Sitzen vor. »Wir, das sind ein junges italienisches Mädchen und ich, sind auf das Schiff gekommen, weil wir glaubten, man könne uns nach Dubrovnik bringen, ohne Paß. Noch wissen wir nicht, was man mit uns vorhat.«
Juanita musterte Hellberg. War es eine Falle? Log er? Wollte er sich mit dieser Erzählung in ihr Vertrauen einschleichen? »Ist sie hübsch«, fragte sie. »Ist Ihre Begleiterin sehr hübsch?«
»Ja.«
»Dann wird sie bald wie ich in einem Harem oder in einer Spelunke in Beirut enden.«
Hellberg krampfte sich das Herz zusammen. Er vermied es, Sa-luzzo anzusehen. So also ist das, dachte er. Hier haben wir einen Zipfel des Geheimnisses gelüftet, das Saluzzo umgibt: Das Geheimnis seiner großen Einnahmen! Statt mit Teppichen handelt er mit lebender, hübscher Ware. Unter den Augen der Polizei, mit dem Glorienschein des erfolgreichen Mannes, mitten unter uns, im 20. Jahrhundert.
»Was sagt sie?« fragte Saluzzo ungeduldig an der Tür. Daß er keinen Sinn in den Worten entdeckte, obgleich Italienisch und Spanisch ähnlich klingen, ärgerte ihn.
»Sie hat Heimweh«, sagte Hellberg auf gut Glück. Saluzzo lachte hämisch.
»Das gibt sich, Signore Hellberg. Jeder Mensch braucht eine bestimmte Zeit zur Akklimatisierung. Der eine mehr, der andere weniger. Aber darum braucht sie nicht so zu schreien.«
Hellberg beugte sich wieder zu Juanita vor. »Er versteht kein Wort unserer Unterhaltung, Senorita«, sagte er. »Vertrauen Sie mir, bitte. Ich habe gesagt, Sie hätten Heimweh. Erzählen Sie mir schnell, woher Sie kommen und wie ich Ihnen helfen kann.«
Juanita Escorbal ließ die Haare wieder über ihr Gesicht fallen. Saluzzo sollte nicht sehen, wie neuer Glanz in ihre Augen kam. Glanz der Hoffnung und neuen Mutes.
»Ich bin die Tochter von Juan Carlos Comte de Escorbal aus Tarragona. Mit Freunden war ich auf einer Segeljacht unterwegs nach Mallorca. Da kamen wir in einen Sturm, einen der seltenen Sommerstürme, die Sand aus der Sahara mitbringen. Das Meer wurde zur Hölle, der Hauptmast brach, mußte gekappt werden und ging über Bord. Beim Versuch meines Bruders, mit dem Hilfsmotor weiterzukommen, gerieten wir in eine riesige Welle, die uns Ruder und Aufbauten völlig zerstörte. Führerlos trieben wir drei Tage auf der sich beruhigenden See, bis uns die Jacht Saluzzos sichtete. Er kam längsseits, besichtigte unser wundgeschlagenes Schiff, ließ mich als erste an Bord seiner Jacht kommen und dampfte dann ab, ohne sich um meinen Bruder und meine Freunde zu kümmern. Ich hörte sie noch nach mir schreien . aber was sollten sie anderes tun? Sie waren ja völlig wehrlos. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Wenn die Madonna gnädig war, hat ein anderes Schiff sie aufgelesen.«
»Wie lange sind Sie jetzt hier, Senorita?« fragte Hellberg. Er konnte vor Erregung kaum sprechen.
»Vielleicht zwei Wochen ... ich weiß es nicht. Ich habe keinen Zeitbegriff mehr. In meine Kabine scheint nie die Sonne. Ich zähle die Tage so, wie ich schlafe ... und ich habe bisher fünfzehnmal geschlafen.«
Hellberg wischte sich über die Augen. Zwischen den Fingern sah er zu Saluzzo. Der elegante Teufel stand lässig an der Tür, lehnte sich gegen den Rahmen und rauchte eine Zigarette.
»Wie kann man Ihnen helfen?« fragte Frank. »Warum haben Sie so geschrien?«
»Ich werde schreien, bis mir die Kehle platzt. Ich lasse mich nicht kampflos verschleppen!« Juanita kroch von der Wand weg. Als sie vor dem Bett stand und das grelle Licht aus dem Kristalleuchter sie überflutete, sah Hellberg erst, wie atemberaubend schön sie war. »Wissen Sie, daß in den Kabinen auf diesem Gang noch mehr Mädchen gefangengehalten werden?«
»Nein!« Hellberg sprang auf.
»Was sagt sie?« fragte Saluzzo an der Tür.
»Gleich.« Hellberg war es nicht mehr möglich, seine Erregung zu beherrschen. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Juanita ging zu einem Sessel, auf dem ein seidener Morgenmantel lag, und zog ihn über ihr durchsichtiges Hemdchen. »Wie viele Mädchen sind an Bord?«
»Ich weiß es nicht genau. Nachts klopfen wir zur Verständigung gegen die Wände. Aber es sind mindestens fünf andere Mädchen.
Und nun wird Ihre Begleiterin dazukommen.«
»Nie und nimmer!« sagte Hellberg verbissen.
»Was wollen Sie tun? Wir sind doch wehrlos! Ich kann wenigstens schreien . dann kommt jemand und gibt mir eine Beruhigungsspritze. Aber Sie können gar nichts tun.« Juanita kämmte sich vor dem großen Kristallspiegel. Umberto Saluzzo lächelte zufrieden. Was dieser Hellberg auch gesagt haben mochte - er hatte sie wenigstens beruhigt. »Sie werden übrigens auch verkauft.«