Um die Mittagszeit, als Karl Haußmann und Erika aufdem Oberdeck Kricket spielten, brach unter Deck die Katastrophe aus. Ein Mann aus Flensburg, der bisher ruhig an der Bar gesessen hatte und von dem niemand Näheres wußte, verließ nach drei Kognaks den Speisesaal und ging in seine Kabine. Dort nahm er aus seinem Koffer ein großes Taschenmesser, klappte die Klinge heraus, trat wieder in den Gang und sah mit irren Augen um sich.
»Der Doktor!« sagte er laut vor sich hin. »Wo ist der Doktor? Alle Ärzte sind Betrüger! Alle Ärzte belügen uns! Alle! Sie verderben die Menschheit. Aber bevor sie es tun können, werde ich im Namen der Menschheit alle Ärzte töten.«
Mit äußerlich ruhigen Schritten ging er durch das Schiff, das Messer in der flachen Hand, so daß es niemand sah, und suchte in den Kabinen nach Dr. Mihailovic.
»Entschuldigen Sie«, sagte er jedesmal, wenn er eine Kabinentür aufriß oder man ihm nach seinem Klopfen öffnete. »Dr. Mihailo-vic hier?« Er starrte in die Kabinen, schüttelte dann den Kopfund ging weiter.
So kam er auch in die 1. Klasse zu der Kabine Karl Haußmanns, klopfte an und betrat sie, als niemand ihm Antwort gab. Erschöpft von seiner Suche nach Dr. Mihailovic setzte er sich in einen der Sessel, legte das Messer auf die Lehne und erholte sich etwas.
Oben, auf dem Spieldeck, legte Erika Haußmann den Schläger weg und strich sich die verschwitzten, kupfern leuchtenden Haare aus der Stirn.
»Eine Hitze ist das, Karli«, sagte sie. »Ich geh' schnell 'runter und ziehe mich um. Kommst du mit?«
Karl Haußmann schielte auf die kleine Erfrischungsbar. Aus einem Eiskessel zog der Steward Büchsen mit deutschem Bier. Karl Haußmann bekam einen unbändigen Durst. Erika lachte, als sie seinen Blick verfolgte und die schäumenden Gläser sah.
»Geh' nur, Karli«, sagte sie. »In fünf Minuten bin ich wieder da. Bestell' mir auch eins.«
»Nicht lieber eine Orangeade, Rika?«
»Nein, ein kühles Bier! O Karl, ich fühle mich heute so stark wie selten. Ich kann gar nicht begreifen, daß ich gestern noch krank sein sollte.« Sie lehnte sich an ihn und legte den Arm um ihn. »Vielleicht irren sie sich alle«, sagte sie leise. »Vielleicht sind es nur die Nerven.« Die ganze Hoffnung lag in dieser Frage. Die Hoffnung, die alle Krebskranken so sehr beseelt . und die immerwährende Flucht vor der schrecklichen Wahrheit.
»Der Himmel möge es so sein lassen.« Karl Haußmann gab Erika einen Kuß. »Es ist unbegreifbar, wenn man dich so sieht, Rika. Ich habe ja nie daran geglaubt. Du wirst sehen, der Arzt in Sarajewo lacht nur und schickt dich nach Hause!«
Wie ein junges Mädchen lief Erika über das Deck und die Treppe hinunter zu den Kabinenfluren. Haußmann sah ihr nach, und er spürte ein so warmes, herrliches Gefühl, wie er es lange nicht mehr empfunden hatte. Ich liebe sie, dachte er. Ja, ich liebe sie, ich habe sie immer geliebt. Die Sache mit Marion? Das war eine Dummheit. Ein Irrtum! Ein Ausrutscher, wenn man so sagen darf. Ich bin einmal auf dem Glatteis des Lebens ausgerutscht, aber rechtzeitig wieder aufgestanden. Und die Knochen habe ich mir auch nicht gebrochen, das ist wichtig!
Rika, ich liebe dich wie am ersten Tag, als wir zusammen tanzten und ich nicht wußte, wie man seine Tanzpartnerin unterhält. Weißt du noch: Vom Wetter habe ich gesprochen, und dann vom Fußball. Schalke 04 gegen 1. FC Köln. Und du hattest Anstand genug, diesem jungen, stammelnden Idioten, der ich damals war, geduldig zuzuhören. Erst Jahre später erfuhr ich, daß du gar nicht wußtest, wer Schalke 04 ist.
Haußmann ging lächelnd hinüber zur Bar und zeigte aufdie eisgekühlten, vor Kälte beschlagenen Büchsen.
»Due«, sagte er und hob zwei Finger zur besseren Verständigung. Und dann wartete er auf Erika.
In der Kabine sprang der Herr aus Flensburg auf, als Erika eintrat. Er riß das Messer an sich, rannte an der erstarrten Frau vorbei zur Tür, warf sie zu und stellte sich davor.
»Erschrecken Sie bitte nicht«, sagte er mit flackernden Augen. »Ich kam in Ihre Kabine, weil ich jemanden suchte, und dann übermannte mich die Müdigkeit. Diese Hitze. Und dann auf dem Wasser! Und dazu mein Auftrag, den ich erfüllen muß.«
Erika wollte schreien, aber sie sah ein, daß es jetzt sinnlos war. Sie starrte aufdas blanke Messer und nahm alle Kraft und allen Mut zusammen.
»Sie sind Deutscher?« fragte sie.
Der Herr aus Flensburg zog erfreut die Brauen hoch. »Oh, eine Landsmännin! Gestatten, Uve Frerik mein Name.« Er verbeugte sich mit eckigen Bewegungen und hielt sein Messer an der Hosennaht. »Großkaufmann aus Flensburg.« Dann ließ seine übertriebene Zak-kigkeit nach, er hob den Kopf und sah Erika mit fieberglänzenden Augen an. »Nach Sarajewo, gnädige Frau?«
Erika nickte. »Ja.«, antwortete sie stockend. »Sie auch, Herr Fre-rik?«
»Leidensgenossin?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Krebs, Gnädigste! Die Krankheit unseres Jahrhunderts. Wir Kabineninhaber haben ihn ja doch alle, nicht wahr? Nebenan liegt ein Engländer im Koma, zwei Kabinen weiter liegt eine Dame mit Darmkrebs, in Kabine 9 ein Mammakarzinom, Kabine 23 drei Damen mit Magen-Ca., Uteruskrebs und Leukämie ... und so geht es durch das Schiff bis zum C-Deck, wo ganze Sippen nach Sarajewo reisen, zu diesem Dr. Zeijnilagic und seiner Wunderdroge HTS! Auch ich!« Er verbeugte sich wieder wie bei der Vorstellung. »Lymphogranulomatose, Gnädigste. Von den Ärzten aufgegeben. Lebenserwartung noch sieben Monate. Sagen Sie ganz ehrlich: Wenn Sie meinen Körper sehen würden, alle Lymphbahnen sind aufgequollen wie Heferollen.«
Erika sah sich hilfesuchend um. Zum Nachttisch, dachte sie. Dort steht eine Flasche Mineralwasser. Man sollte sie ihm an den Kopf werfen und dann hinausrennen. Doch dann starrte sie wieder auf das Messer in der Hand Freriks und wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren.
»Und . was wollen Sie noch in meiner Kabine?« fragte sie mit bewundernswerter Kraft. Wenn doch Karl käme, dachte sie dabei. Er steht oben und wartet auf mich mit dem Bier. Er muß doch nachsehen, warum ich nicht komme. Bestimmt sieht er nach. Noch fünf Minuten Mut . vielleicht zehn Minuten.
»Wie ich schon sagte, Gnädigste, ich ruhte mich aus. Ich suche Dr. Mihailovic. Ich muß ihn töten.«
»Was müssen Sie?« stammelte Erika. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Jetzt erst sah sie an dem flackernden Blick und den unruhigen Händen, daß Uve Frerik ein Irrer war, daß sie sich mit einem gefährlichen Verrückten in einem Zimmer befand und keine Möglichkeit hatte zu flüchten. Das schnürte ihr die Kehle zu, und sie wich zur Wand zurück.
»Das Problem ist einfach, Gnädigste«, sagte Frerik in fast dozierendem Tonfall. »Ich habe eine langjährige Erfahrung im Umgang mit Ärzten. Meine Mutter starb an Krebs, mein Vater verendete an einem verschleppten, durchgebrochenen Blinddarm, der falsch operiert wurde, und - auch so etwas gibt es in unserem Jahrhundert! -, meine Schwester verunglückte und starb an einer Hirnquetschung, die man nicht erkannte. Meine Frau wurde vor drei Jahren mit Kobaltbestrahlungen zu Tode bestrahlt. Sie sehen, ich habe den besten Umgang mit Ärzten und erfuhr, was man ärztliche Kunst und Wissen nennt. Immer haben die Ärzte geglaubt, sie hätten mich beobachtet . ein verzeihlicher Irrtum: Ich habe sie studiert! Ihre Arroganz gegenüber fragenden Patienten, ihre vollendete Lügenhaftigkeit, ihr mangelndes Wissen, das sie mit tönenden, lateinischen Vokabeln umkleiden, ihre Interessenlosigkeit gegenüber dem einzelnen und ihr Spiel mit den Krankenscheinen. Gewiß, es gibt auch weiße Hirsche, zahme Löwen, nicht staubende Briketts und geruchlose Ausdünstungen. Aber das sind Ausnahmen und die guten Ärzte sind solche Ausnahmen. Man betrachtet sie in ihrem Kollegenkreis ja auch als Außenseiter!«
Uve Frerik, der Irre, holte tief Atem und schlug im Stehen die Beine übereinander. Erika starrte gegen die Tür. Warum kommt Karl nicht, dachte sie. Warum läßt er mich mit diesem Wahnsinnigen allein?