Vor ihnen, auf der Straße, lief gemütlich ein Esel. Er sah sich um, wackelte mit den Ohren, hob den Schwanz und lief dann weiter, ohne sich um den Lärm der Hupe zu kümmern.
An den Fenstern klebten die Gesichter der Reisenden, schadenfroh und fröhlich.
»Immer langsam, Freundchen!« rief jemand.
Und ein anderer: »Es ist seine Straße. Kann man's ihm übelnehmen?«
Behutsam fuhr der Bus hinter dem trottenden Esel her. Als das Tier endlich abbog in einen Feldweg, klatschten die Reisenden Beifall, der Bus heulte auf und rasselte die Serpentinen hinunter zur Fähre, die über einen der Fjorde nach Kotor fährt. Aus zwei Fischerbooten war sie zusammengesetzt, und als der voll beladene Bus darauf rollte, sank sie so tief ein, daß das Wasser über die Seiten schwappte.
Claudia umklammerte wieder den Arm Franks.
»Sie sinkt.«, stammelte sie. »Wir werden alle ertrinken!«
Aber nichts geschah. Tuckernd überquerte man die Meerenge, legte auf der Seite von Kotor an, und als sie in die uralte Stadt einfuhren, war es fast ein Triumphzug, denn alle winkten ihnen zu.
Es war später Nachmittag, als sie die letzte Strecke zwischen Her-cegnovi und Dubrovnik befuhren. Noch einmal gab es einen Aufenthalt von einer halben Stunde, weil ein Erdrutsch die Straße verschüttet hatte. Große Felsbrocken lagen auf der Fahrbahn. Kritisch starrte Hellberg die steilen Hänge hinauf. Wenn sich dort wieder ein Teil der Felsen löst, dachte er, sind wir in Sekunden zermalmt und begraben.
Aber auch dieses Hindernis wurde überwunden. Alle stiegen aus, und unter dem Kommando des Polizisten und des dreiviertel betrunkenen und nach Slibowitz weithin duftenden Schaffners schleppte man die Felsbrocken zur Seite und rollte sie einfach ins Tal. Wohin sie stürzten ... wenn kümmerte es? So etwas ist ein Naturereignis. Man muß ihm aus dem Wege gehen.
»Eine schöne Fahrt!« sagte der Polizist, als man durch die ersten Vororte Dubrovniks rollte, vorbei an den stillen Villen in den herrlichen Gärten. »Ist es nicht ein schönes Land, Freunde?«
Hellberg verstand ihn nicht, aber nickte zustimmend, denn zu allem ja zu sagen, war jetzt das beste.
Der Bus hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Stadion-Hotel in Dubrovnik. Die Reisenden quollen auf das heiße Pflaster, um den Heck-Kofferraum versammelten sich schimpfende Gruppen, denn das Gepäck wurde einfach auf die Straße geworfen, auch wenn einige schrien: »Vorsicht, Brüder! Glas ist drin! Glas! Gebt doch acht, Genossen!«
Der Polizist sah Hellberg und Claudia aus umflorten Augen an und rülpste. Er war müde, hatte Durst und sehnte sich nach einem gebratenen Hühnchen. Sein Auftrag war klar: Ablieferung der beiden Fremden am Hafen. Hinweis auf das Fährschiff. Rückkehr mit dem Bus am nächsten Morgen. Konnte da noch etwas schiefgehen?
Er winkte, ging mit staksigen Beinen voraus bis zur nächsten Mole, zeigte hinüber zum Hafen und auf die Schiffe und sagte:
»Italia! Navigare! Prego! Subito.« Dann grüßte er, lächelte Claudia an, machte eine scharfe Kehrtwendung und ging, leicht schwankend, zum Bus zurück.
Auftrag erfüllt! Es lebe der Abend in Dubrovnik.
Sprachlos sah Frank Hellberg ihm nach. Es dauerte lange, bis er begriff, daß nun alles erledigt war, daß sie nicht mehr bewacht wurden, daß sie lediglich den Befehl bekommen hatten, auf das Fährschiff nach Bari zu gehen.
»Wir sind frei, Frank«, sagte Claudia leise. Trotz der Abendhitze war ihre Hand kalt, als sie nach ihm tastete. »Wir sind keine Gefangenen mehr.«
»Komm!« Hellberg faßte sie fest an der Hand. »Weg von hier. Zum Hafen! So schnell wie möglich weg, ehe er es sich anders überlegt oder wieder nüchtern wird.«
Wie Kinder rannten sie die Uferstraße entlang, bis sie den Bus nicht mehr sahen, sondern nur noch die schlanken, weißen Leiber der Jachten und Segelboote und die in der Abendsonne blitzenden Scheiben des Hotels >Petka<. An den Molen der Fährschiffe herrschte reger Betrieb. Ein Ersatzschiff für die >Sveti Stefan< und die >Budva< wurde beladen. Am Quai wartete die lange Wagenreihe auf die Freigabe der Fahrt in den hohen Leib des Schiffes.
»Haußmanns werden längst in Sarajewo sein«, sagte Hellberg. Er saß auf einem Stapel Rundstämme und blickte hinüber zum Hotel Petka. »Wie ich Herrn Haußmann kenne, hat er eine Nachricht hinterlassen. Aber wo? Wir sollten einmal alle Hotels abgehen. Vielleicht haben wir Glück.«
Und sie hatten Glück, schon beim ersten Fragen. Der Chefportier des Hotels Petka, der ein wenig deutsch sprach, begrüßte Hellberg wie einen alten Freund, als dieser seinen Namen nannte und nach Karl Haußmann fragte.
»Ein Brief für Sie, mein Herr!« rief der Chefportier. »Gestern sind die Herrschaften abgefahren. Liebe Menschen, liebe Menschen! So großzügig.«
Hellberg verstand. Er schob einen Zwanzig-Mark-Schein unter einen Hotelprospekt und riß den Brief auf. Der Chefportier schob unterdessen den Prospekt weg, zerknüllte ihn und trug ihn zur Seite. Sauberkeit ist alles!
Hellberg und Claudia setzten sich in die Ledersessel der Hotelhalle und lasen den Brief Haußmanns. Er war kurz, in großer Eile geschrieben.
».wir fahren jetzt gleich nach Sarajewo. In unserer Begleitung ist ein Lord Rockpourth. Wir müssen uns um ihn kümmern. Lord R. hat in Sarajewo Zimmer bestellt. Wir wohnen im Hotel Europa. Werden auch für Sie und Claudia Zimmer reservieren. Lord R. kann anscheinend alles. In größter Eile herzlichst Haußmann.«
Hellberg faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Dann ging er zurück zur Theke der Rezeption. Der Chefportier glänzte ihn an wie ein Liebhaber seine Geliebte.
»Mein Herr.?«
»Wie kommt man am schnellsten nach Sarajewo?« fragte Hellberg.
»Am schnellsten mit dem Auto, am sichersten mit dem Zug. Ich würde den Zug empfehlen. Abfahrt 8.30 Uhr, Ankunft gegen 21 Uhr . genau weiß man das nicht. Es gibt da viele unvorhergesehene Dinge.«
»Zum Beispiel Erdrutsche.«
»Auch, mein Herr.«
»Ein Esel auf den Schienen.«
»Kommt alles vor.« Der Chefportier grinste breit. »Soll ich zwei Karten besorgen lassen? Auch Geld können Sie bei mir wechseln, mein Herr. Bei mir können Sie alles haben.«
Hellberg nickte. Er gab dem Portier fünfhundert deutsche Mark und wußte, daß er sich bis morgen früh um nichts mehr zu kümmern brauchte. Zwei Zimmer, das Abendessen, das Frühstück, die
Fahrkarten, die eingewechselten Dinare ... alles würde bereit sein.
»Morgen sind wir endlich, endlich in Sarajewo«, sagte er, als er zurück zu Claudia kam, die noch immer in dem Ledersessel saß. Sie sah bleich aus. Die schönen, glänzenden Augen lagen tief in den Höhlen. »Morgen stehen wir vor dem Haus deines Wunderdoktors, mein Liebling, und übermorgen kannst du die ersten Kapseln nehmen.«
»Und ich werde gesund«, sagte Claudia ganz leise und legte das Gesicht auf Franks Hände. So viel Zärtlichkeit und Glaube war in dieser Geste, daß Hellbergs Herz bis zum Halse schlug.
Mein Gott, dachte er, was wird bloß, wenn auch HTS nicht hilft? Wenn dieses Mittel nur eines der vielen Wundermittel ist, die eine gewissenlose Propaganda emporhebt in den Himmel, um dann die Hoffenden in die tiefste Hölle stürzen zu lassen? Rennen wir nicht mit offenen Augen einem Phantom nach? Alle, die sich mit dem Krebsproblem beschäftigen, alle Ärzte in aller Welt sagen: Es gibt kein Allheilmittel gegen den Krebs. Wer das behauptet, ist ein Betrüger. Wie kann es ein Mittel gegen eine Krankheit geben, von der man noch nicht einmal weiß, wie sie entsteht?
»Ich bin müde, Frank«, sagte Claudia leise. »So müde, Liebling. Wenn du nicht bei mir wärst, ich hätte es schon längst aufgegeben.«
Später saß Hellberg auf dem Balkon seines Zimmers und sah hinaus in die warme Nacht und über das Lichtermeer von Dubrovnik. Nebenan schlief Claudia, mit einem Lächeln auf den Lippen, wie ein beschenktes Kind. Vom Chefportier hatte er zwei neue englische Zeitungen bekommen. In beiden stand ein Artikel über das HTS des Dr. Zeijnilagic in Sarajewo.