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»Verzeihung«, sagte er. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte nur mitgenommen werden.«

Die Reisenden grinsten ihn an, nickten, und die vorderen, die sich noch bewegen konnten, winkten ihm zu.

Um 9 Uhr gellte ein Pfiff über den Bahnhof. Der Zug ruckte plötzlich an, die Mauer der Leiber wankte, aber sie konnte nicht fallen, Dampfzischte aus dem Schornstein der kleinen, alten Lok, und dann fuhr der Zug, polternd und rumpelnd, schaukelnd und stöhnend und verließ das Paradies Dubrovnik, um einzutauchen in ein Land, das wild und feindlich war.

Hellberg und Claudia sahen hinaus. Durch Schluchten und über steile Täler, in deren Gründe ein Wildbach rauschte, schwankten die Wagen langsam bergan. Es war ein Eilzug, aber man konnte gemütlich während der Fahrt auf- und abspringen, und ein paar junge Burschen taten es auch, angefeuert von den Rufen der Zuschauenden.

Vor jedem Tunnel pfiff die Lok, dann wurden schnell die Fenster hochgedreht, denn die Tunnels waren eng, und eine Woge von Ruß schlug in dem engen Schlauch über den Wagen zusammen. Kaum wieder im Tageslicht, rasselten die Fenster herunter, denn auch der Gestank innerhalb des Zuges war selbst starken Nerven bei geschlossenen Fenstern zuviel.

Die erste Station. Hellberg merkte sich den Namen nicht, aber fasziniert starrte er aufdie Händler, die am Zug mit lautem Geschrei und wilden Gesten entlangrannten. In Bauchläden boten sie Gebäck und Limonade oder Trinkwasser in Plastikflaschen an, Andenken aus Gips, Bettvorleger, Kopftücher und Glasketten. Ein Mann mit einem Kofferradio stieg ein. Jubel empfing ihn, er mußte sein Gerät sofort anstellen und auf volle Lautstärke drehen. Musik kreischte durch den Gang, jemand sang mit, ein Kind schrie. Im Abteil, in dem Hellberg und Claudia saßen, war auch ein junges Pärchen. Es stand neben der Tür. Und dieses Pärchen begann nun zu tanzen nach der plärrenden Musik. Aber das war kein Tanz mehr, sondern nur mehr ein wildes Aneinanderreiben, und das Mädchen bekam große, glänzende Augen, feuchte Lippen und stieß kleine, spitze Schreie aus.

Weiter. Die Lok keuchte. Steil ging es bergauf, dann über eine Hoch-ebene, über kühn gespannte Brücken, vorbei an silbern glitzernden Talsperren und rauschenden Flüssen.

»Jetzt schwimmen.«, sagte Claudia und lehnte sich schwitzend zurück. Die Luft war zum Schneiden dick, es machte Mühe, tief zu atmen, obgleich das Fenster offen war.

Eine neue Schlucht, Steilhänge, bewachsen mit niedrigem Gestrüpp, das kaum die kahlen Felsen überwucherte. Ein Land, das gegen alles kämpft, gegen Sonne und Regen, gegen Wasser und Fruchtbarkeit, das nur eins kennt: Haß gegen alles, was Leben bringen kann.

Grelle Pfiffe. Ein neuer Tunnel. Fenster hoch. An der Unruhe der erfahrenen Reisenden erkannte Hellberg, daß etwas bevorstand. Man holte Taschenlampen heraus und Feuerzeuge. Also ein langer Tunnel, der längste bisher.

Claudia tastete nach Hellbergs Hand, als sie in den schwarzen Tunnel hineinschwankten. Trotz der geschlossenen Fenster quoll Ruß in die Waggons, wieder schrie das Kind, das Radio brachte jetzt anscheinend Nachrichten, denn eine Stimme sprach monoton dahin, das junge Pärchen küßte sich ungeniert und hielt sich eng umklammert . und dann plötzlich, nach einem lauten Schnaufen und Zucken, hielt der Zug mitten im Tunnel.

Das hatte man erwartet. Im Tunnel ging die Strecke steil bergauf, der Zug war überfüllt, und die kleine, alte Lok streikte nun.

»Was wird nun?« fragte Claudia ängstlich. »Müssen wir alle aussteigen und schieben?«

Hellberg lachte. Jemand, der etwas deutsch konnte, sagte aus dem dunklen Hintergrund im Gang:

»Nix Angst! Nur mehr Feuer machen. Mehr PuffpufflDann weiter!«

Und so war es. An der Lok arbeiteten vier Mann und schippten Kohlenberge in die Kesselfeuerung. Zwischendurch versuchte man, ob genug Dampfdruck vorhanden sei. Dann ruckte der Zug an, krabbelte ein paar Meter vorwärts und stand wieder.

Die Kohlenschipperei ging weiter. Mehr Dampf, Genossen! Mehr Kraft! In ein paar Jahren ist hier die Normalspurbahn. Der Fortschritt. Bewegt die Schaufeln, Leute!

Es dauerte gute zwanzig Minuten, bis es aus der Lok hell zischte. Durch die Menschenmauern ging ein Aufatmen. Gleich geht's los. Zur Sonne, Brüder!

»Es läßt sich nicht ändern, Genossen«, sagte ein älterer Mann, der im Abteil Hellbergs stand und sich am Gepäcknetz festgeklammert hatte. »Zucker habe ich. Ein Spritzchen muß ich haben, genau zur festgsetzten Zeit. Jetzt ist's soweit. Entschuldigt, Bürger, kein schöner Anblick ist's, aber es geht um meine Gesundheit.«

Er sah sich nach allen Seiten um, grinste, holte aus der Tasche ein verchromtes Kästchen, entnahm ihm eine kleine Injektionsspritze, sägte eine Ampulle ab, zog die Spritze aufund drückte die Luft aus der Kanüle. Dann streifte er die Hosenträger ab, knöpfte die Hose auf, zog sie herunter, hob sein Hemd hoch und suchte auf seinem Oberschenkel eine gute Stelle.

Claudia sah schnell weg zur Seite, hinaus in die Schwärze des Tunnels. Das Mädchen mit den feuchten Tanzaugen kicherte blöd, eine Frau, die neben Hellberg saß, hochschwanger, mit dem Leib wie ein prall gefüllter Ballon, deckte sich ein feuchtes Handtuch über das Gesicht.

»So -«, sagte der Mann, als er sich die Spritze mit Insulin gegeben hatte. »Das war nötig. Ich danke euch, Genossen. Man ist ein armer Mensch, wenn man nur durch Spritzen leben kann.«

Die Lok zischte, wie kurz vor einer Explosion, aber die Wagen rollten langsam weiter, wurden schneller und schneller und rumpelten wie Musik. Jubel war in allen Wagen, und als man die Sonne ahnte, als es fahl wurde im Tunnel, sangen sogar einige. Eine Flasche Slibowitz kreiste plötzlich im Abteil. Die Schwangere nahm einen Schluck, das Pärchen, der Zuckerkranke, und auch Hellberg ließ den scharfen Schnaps in sich hineinlaufen, um den Spender nicht zu beleidigen.

Mostar. Großer Aufenthalt. Die einen stürmten aus dem Zug, die anderen wollten hinein. Wer bisher stand, saß jetzt, denn während der Fahrt hatte man über die Sitzplätze bereits verhandelt. Ein altes Mütterlein in der Ecke, niemand hatte sie bisher gesehen, bekreuzigte sich, als der Zug doch weiterfuhr. Hinaus aus Mostar mit seinen steinigen Gassen und Moscheen. Und ohne zu wissen, wie nahe sie Karl und Erika Haußmann waren, sahen Claudia und Hellberg auch hinüber zu dem langgestreckten Gebäude des Krankenhauses.

»Eine ganz moderne Klinik!« sagte Hellberg sogar. »Wer vermutet das hier?«

Und weiter ging die Fahrt, Güterwagen wurden angekoppelt und auf der nächsten Station wieder stehengelassen, eine zweite Lok drückte den Zug von hinten einen neuen Berghang empor, und dann rappelten sie wieder durch karstiges Land und durch Landstriche, in denen selbst die Füchse weinen.

Claudia war am Ende ihrer Kräfte, zu schlaff, um ohne Hilfe Hellbergs zu gehen, als sie gegen 21.30 Uhr endlich den Bahnhof von Sarajewo erreichten.

Neues Geschrei umgab sie. Eine Menschenmenge stürzte sich auf die Reisenden, als wolle sie sie lynchen. Aber es war nur Hilfsbereitschaft, nur Brüderlichkeit, denn alle, die da angestürmt kamen, hatten etwas anzubieten: eine Taxe, das Tragen des Gepäcks, Hotelzimmer, Privatquartiere, Adressen von Cafes und Weinlokalen, Tanzsälen und Goldschmieden. Ein Schuhputzer baute seinen Schemel auf und hieb die Bürsten gegeneinander wie die Becken einer Militärkapelle. Eine alte Frau schob auf kreischenden Rollen eine Waage heran und schrie, man solle sich wiegen lassen. Zur Gesundheit gehöre es, Genossen. Und Gesundheit ist Volkspflicht.

Die Menschen aus dem Abteil Hellbergs waren freundliche Leute, jeder gab Hellberg und Claudia die Hand wie alten Freunden, man winkte ihnen zu und eilte davon. Und sie alle sahen gleich aus, wie Brüder: rußgeschwärzt im Gesicht, mit schmutzigen Hemden und Händen, wie überzogen mit Schmiere, aber fröhlich und freundlich, denn man hatte Sarajewo wohlbehalten erreicht.