Frank Hellberg führte Claudia durch die ihn umgebenden quirlenden Menschenmassen zu einer Bank. Dort sank sie nieder und legte den Kopf weit in den Nacken, um tief, tief Luft zu holen.
»Ich werde uns ein Quartier besorgen«, sagte Hellberg. »Irgendwo gibt es hier einen Schalter der Fremdenverkehrsorganisation. Ich bin schnell wieder zurück, Liebste.«
Claudia nickte. Schlafen, dachte sie. Ein Bett, die Arme Franks, seine Wärme, seine Geborgenheit, und träumen . nur träumen . schlafen.
Hellberg rannte durch die Halle des kleinen Schmalspurbahnhofes hinaus auf den Vorplatz und hinüber zu dem großen Bahnhof der Normalbahn, in dem die Züge aus dem Norden und Osten hielten. Hier war alles großstädtischer, sauberer, propagandistischer. Hier hingen Fahnen und Spruchbänder, hier herrschte Ordnung und wachte das Auge der Miliz.
Vor einem Zeitungsstand blieb Hellberg stehen. Sein Blick überflog die Zeitungen. Eine deutsche war nicht darunter, aber ein paar englische.
Und dann wurden seine Augen starr, und Blässe ließ sein Gesicht fahl werden. Es war, als fiele es zusammen. Wie hundert Jahre sah er aus.
Eine Schlagzeile.
Der Daily Mirror.
»Das darf nicht wahr sein.«, sagte Hellberg leise. »Das darf einfach nicht wahr sein.«
Er trat näher und nahm die Zeitung aus der Drahtklemme. Die Schlagzeile zitterte in seinen Fingern.
»Nach Gutachten der Spezialisten:
Verbot des Krebs->Wundermittels< HTS.«
Frank Hellberg faltete die Zeitung schnell zusammen, nachdem er den Artikel überflogen hatte. Ein Gremium jugoslawischer Ärzte hatte die Gesundheitsinspektion von Bosnien dazu überredet, das Mittel HTS als unwissenschaftlich und unerprobt< abzulehnen und damit zu verbieten.
»Erst lange Versuchsreihen an Tieren und in Kliniken, Veröffentlichungen in medizinischen Fachblättern und Erfahrungsaustausch ausländischer Kliniken sind die Voraussetzungen für die Entwicklung eines Mittels, das anerkannt werden kann«, schrieb die Zeitung. »Hier aber ist ein Arzt mit völlig unorthodoxen Mitteln vorgegangen und hat Hoffnungen erweckt, die nicht zu realisieren sind!« Aber auch die erste Stellungnahme Dr. Zeijnilagics war abgedruckt. Es war ein trauriger, ein fassungsloser Appell an die Welt, die Hoffnung nicht zu verlieren und den Intrigen der anderen Ärzte nicht mehr zu glauben als ihm: »Ich habe das Präparat HTS für den Menschen entwickelt und nicht für das Tier«, sagte er. »Ich bin kein Scharlatan. Ich habe 15 Jahre an dem Mittel gearbeitet. 3.000 Krebskranke haben es bisher bekommen, und 1.000 sind geheilt oder wesentlich gebessert worden! Man soll doch abwarten, wie die Tumorzellen auf mein Mittel wirken! Warum verurteilen, was man noch nicht kennt?«
Frank Hellberg kam langsam zu der Bank zurück, auf der Claudia wartete. Sie war eingeschlafen, hatte den Kopf auf den rechten Arm gelegt und hockte auf der Bank wie ein kleines, vergessenes, vom Weinen erschöpftes Mädchen.
Hellberg blieb stehen und sah sie mitleidig an.
War alles umsonst? dachte er traurig. Muß sie wirklich sterben, nur weil sich die Ärzte untereinander nicht den Ruhm gönnen? Nur weil ein Mensch es wagte, >unwissenschaftlich< vorzugehen und weil dies als eine Brüskierung der Medizin empfunden wurde, auch wenn er Erfolg hatte. Ist ein Expertenstreit wichtiger als Tausende Menschenleben, die in der Zeit des Streitens zugrunde gehen? Geht es hier nur um die Form, um die Ansicht einzelner und nicht um den kranken Menschen?
Arme Claudia. Nun sind wir am Ziel, aber es ist wie bei einer Wüstenwanderung: Man erreicht den ersehnten, lebensrettenden Brunnen, und er ist leer!
Hellberg beugte sich über Claudia und küßte sie auf den Nacken. Sie fuhr empor, wischte sich die Augen, und ihr mit Ruß und Staub verschmiertes Gesichtchen starrte erschrocken umher. Dann wußte sie wieder, wo sie war, und sah Frank mit einem kindlichen Lächeln an.
»Ich habe geschlafen. Hast du ein Quartier, Frank?«
»Ich habe eine Liste der Hotels und Pensionen gekauft. Fahren wir erst zum Hotel >Beograd<. Ein gutes, nicht so teures Hotel. Ich glaube, daß wir mehr Platz finden, als wir erwartet hatten.«
Er dachte an den zwei Tage alten Artikel in der Daily Mirror und den damit versiegenden Strom der Kranken aus Italien und anderen Ländern.
In einem uralten, klapprigen Taxi fuhren sie zur Princip Straße 9, wo das Hotel Beograd lag, ein schönes Haus mit Terrasse und Sommergarten und einem romantischen Blick auf die Spitzen der Minarette. Halb Sarajewo schien aus Moscheen zu bestehen, und viele der Menschen, an denen sie vorbeifuhren, trugen rote Feze auf den Köpfen und sogar die weiten, orientalischen Pumphosen.
Hellberg hatte recht, man hatte zwei Zimmer frei. Niemand störte sich an dem schmutzigen Aussehen der neuen Gäste. Man wußte: Sie sind mit der Kleinbahn aus Dubrovnik gekommen. Allah hat sie gut geführt - sie leben noch! Und das schöne Mädchen ist sehr krank, das sieht man auch.
»Am besten treffen Sie Dr. Zeijnilagic um die Mittagszeit an«, sagte der Portier hinter der Rezeptionstheke, bevor Hellberg noch ein Wort gesprochen hatte. »Wenn Sie wünschen, melde ich Sie an. Wir haben einen guten Kontakt zu Dr. Zeijnilagic.« Das alles geschah in einem fließenden Englisch, mit großer orientalischer Höflichkeit.
»Morgen!« sagte Hellberg schnell. Er hatte Angst, der Portier könne etwas von dem Verbot des HTS sagen. »Erst wollen wir uns ausschlafen. Es war eine anstrengende Reise.«
»Ein schönes Land, unser Bosnien, nicht wahr?« sagte der Portier. »Allah hat es gesegnet.«
»Das hat er gewiß«, antwortete Hellberg knapp. Dann fuhren sie in einem engen Fahrstuhl in den zweiten Stock und bekamen zwei kleine, saubere, aber spärlich eingerichtete Zimmer mit Blick aufden Sommergarten und hinüber zu den Moscheen.
Claudia war zu müde, um noch etwas zu essen. Hellberg bestellte für sie eine dicke Melonenscheibe und für sich ein Schaschlik. Sie aßen zusammen in Claudias Zimmer; dann gab Frank ihr einen Kuß, sagte: »Und nun schlaf schön, mein Liebling«, und verließ das Zimmer.
Er wartete eine halbe Stunde, bis er sicher war, daß Claudia schlief, und ging hinunter in die Hotelhalle. Der Portier vermittelte ein Telefongespräch mit Dr. Zeijnilagic, und dann war es Hellberg, der den Atem anhielt, als aus dem Hörer eine kräftige, männliche Stimme tönte und »Guten Abend, Zeijnilagic!« sagte. Auch er sprach englisch.
»Hier ist Frank Hellberg«, sagte Frank und wunderte sich, wie gepreßt plötzlich seine Stimme klang. »Für Sie ist es ein Name wie tausend andere, und auch, wenn ich Ihnen sage, daß meine Begleiterin Lungenkrebs hat und Ihr HTS für sie die letzte Hoffnung ist, wird das nichts Neues für Sie sein. Ich rufe Sie an, Doktor, weil ich deutscher Journalist bin. Nicht ein Journalist, der bedenkenlos hurra schreibt und im nächsten Artikel >Kreuzige ihn<, sondern der die Wahrheit schreiben will, wo so viel Unwahres gedruckt wird.«
»Das hört sich gut an«, sagte die Stimme Dr. Zeijnilagics. »Was wollen Sie wissen?«
»Alles, Doktor.«
»Alles ist sehr viel. Es umfaßt fast 16 Jahre.«
»Heilt Ihr Mittel HTS?«
»Das ist eine Frage, wie etwa: Können Sie Ebbe und Flut regulieren?! - Ich weiß es nicht. Mein HTS ist kein anti-tumoröses Mittel; es beeinflußt lediglich den Krankheitsverlauf günstig. Kommt es dabei zu völligen Ausheilungen, so haben wir Gott zu danken.«
»Das ist eine weite Deutung«, sagte Hellberg.
»Ich weiß.« Die Summe Dr. Zeijnilagics war ganz ruhig. »Kommen Sie zu mir und sehen Sie sich alles an.«
»Sehr gern! Wann paßt es Ihnen?«
»Wenn Sie wollen . sofort.«