»Es ist schon spät.«
»Für die Wahrheit ist es nie zu spät.«
»Sie werden müde sein, Doktor.«
»Ich schlafe seit Jahren wenig. Werden Sie die Kranke mitbringen?«
»Nein. Ich komme allein. Ich habe von dem Verbot gehört.«
»Sehen Sie sich alles an. Ich heiße Sie willkommen.«
Ein Klicken in der Leitung. Dr. Zeijnilagic hatte aufgelegt. Frank Hellberg wischte sich über das Gesicht. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er sah auf seine Uhr. Das Glas war verkratzt, ob im Omnibus oder bei der Zugfahrt, er wußte es nicht.
In 10 Minuten sitze ich dem Mann gegenüber, der vielleicht die Möglichkeit entdeckt hat, die Geißel der Menschheit, den Krebs, ernsthaft zu bekämpfen. Ohne Operation, ohne starke Strahlungen, nur mit ein paar Kapseln eines stark nach Kampfer riechenden Pulvers.
Vielleicht.
Oder ist auch er ein Scharlatan wie dieser Dr. Tezza? Nur noch raffinierter, kälter, skrupelloser?
»Das Taxi wartet, Sir«, sagte der Portier, als Hellberg die Telefonkabine verließ. Dabei lächelte er breit, begleitete Hellberg auf die Straße und nahm mit einer schnellen, gekonnten Handbewegung die 1.000 Dinare an, die Hellberg in der hohlen Hand verborgen hielt. Trinkgelder sind im sozialistischen Land verpönt, aber welcher Mohammedaner lehnt ein Bakschisch ab?
Die Fahrt von der Princip-Straße bis zum Hause Dr. Zeijnilagics war nur kurz. Ein paar Ecken herum, ein paar enge Gassen, dann rollten sie an dem Flüßchen Miljacka entlang über die Obala-Stra-ße, und Hellberg sah, daß der Taxichauffeur in echter orientalischer Art mit ihm ein paar Straßen und Häuserblocks zuviel umfahren hatte, um den Taxenpreis zu erhöhen.
Diese Gegend kenne ich von historischen Bildern her, dachte Hellberg und sah hinaus auf die Brücken über die Miljacka. Hier ganz in der Nähe fielen die Schüsse des Attentäters Princip aufden Erzherzog Franz Ferdinand. Hier begann der 1. Weltkrieg, der rund 9 Millionen Tote kostete. Hier war am 28. Juli 1914 der Teufel los. Ein blutgetränkter Boden.
Mit einem quietschenden Ruck hielt die Taxe.
Das Haus Dr. Zeijnilagics. Dreistöckig. Ein alter Bau mit abblätterndem, braunem Putz. Im Parterre eine Apotheke, um die Ecke herum ein kleiner Friseursalon. Ein Eckhaus mit drei halbrunden Balkonen, Eisengittern und Blumenkästen. Gegenüber eine Bar. Folklore-Musik drang auf die stille Straße. Hinter dem Haus griffen die Minaretts der Moscheen in den Nachthimmel. Hier begann das alte Sarajewo. Das Eingeborenenviertel mit den engen Gassen, den Goldschmiedewerkstätten, Teppichknüpfern und Tondrehern.
»Zweites Etages.«, sagte der Taxichauffeur und grinste. »Deutsch?«
»Ja«, sagte Hellberg und starrte das Haus an. Hier wurde vielleicht eine Entdeckung geboren, die eine Welt verändert, dachte er. In einem ungepflegten dreistöckigen Haus, auf der zweiten Etage in einer kleinbürgerlichen Wohnung.
Hellberg dachte an den weißen Palast Dr. Tezzas in Capistrello, und plötzlich hatte er Vertrauen zu Dr. Zeijnilagic, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Hier arbeitet ein Mann nicht um des Geldes willen, empfand er. Hier hat ein Arzt ernsthaft geforscht und nur an den kranken Menschen, nicht an seinen eigenen kranken Geldbeutel gedacht.
Er stieg aus, bezahlte den Chauffeur und blickte zurück zur Prin-cip-Brücke, wo der Mondschein bleich über die Stelle glitt, die zum Schicksal der ganzen Welt geworden war.
»Warten?« fragte der Chauffeur.
»Nein «
»Nachher Tanz? Schönes Mädchen? Weiß Wohnung.«
»Danke.« Hellberg steckte die Hände in die Jackentaschen. Hinter den Gardinen der Wohnung im 2. Stock schimmerte Licht.
Langsam betrat Hellberg das Haus. Die Tür war offen. Als er eintrat, schlug ihm der Geruch von Medizin und Kampfer entgegen. Dazwischen hing der Duft gekochten, gesäuerten Kohles. Im Treppenhaus brannten zwei kleine Lampen. Die Dielen der Stufen waren verwahrlost, vor Jahren einmal gestrichen, vom sommerlichen Straßenstaub wie mit Mehl überzogen.
Wohnt hier ein Genie?
Hellberg dachte an Professor Hahn. Die erste Kernspaltung gelang auf einer Art Küchentisch. Und als er starb, lebte er in einer Dachkammer. Wirkliche Genies leben nicht in Palästen, denn weil sie genial sind, verachtet sie die Welt.
Schritt für Schritt stieg Hellberg die Treppen hinauf. 2. Stock.
Ein Namensschild. >Professor Zeijnilagic Fahrudin<.
Eine elektrische Klingel.
Hellberg hob die Hand. In wenigen Sekunden stand er ihm gegenüber . dem Retter der unheilbar Kranken . oder dem Schwindler, der mit menschlichem Leid jongliert.
War es auch Rettung für Claudia?
Frank Hellberg drückte auf die Klingel. Er schrak zusammen, als er den schnarrenden Laut hörte.
Die Tür öffnete sich. Ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen von etwa 13 Jahren mit großen, dunkelbraunen Augen stand in der weiten, düsteren Diele, an deren Wänden eine Reihe alter Stühle standen. Das notdürftige Wartezimmer eines Retters der Menschheit.
»Guten Abend«, sagte das schlanke, glutäugige Mädchen auf englisch und machte einen Knicks. »Ich heiße Meliha. Mein Vater erwartet Sie.«
Kapitel 11
Mit Lord Rockpourth war nicht zu reden. Nachdem ihm die Transfusionen und Infusionen so gutgetan hatten, die Herzspritzen anschlugen und die Kreislaufmittel ihn ungeheuer tatenlustig werden ließen, kam der alte Ärger über seinen Greisenkörper zurück, der ihm den Dienst versagte. Außerdem traf gegen Morgen Neffe Robert mit Marion Gronau ein, während der Chauffeur in Sarajewo im Hotel Europa blieb und mit der Werkstatt in Belgrad telefonierte, die ihrerseits Verbindung mit der Rolls-Vertretung in Wien aufnahm.
»Was ist das?« schrie Lord Rockpourth, kaum daß Robert ins Zimmer kam. Professor Kraicic, der neben dem Bett saß, hob seufzend die Augen und starrte an die Decke. Er hatte schon viele Kranke erlebt, Skurrile und echte Verrückte, Psychopathen und Simulan-ten, still und gefaßt Sterbende und Tobende, die sich gegen den Tod stemmten. Lord Rockpourth war eine völlig neue Art von Patient: Medizinisch war er längst tot, aber er tyrannisierte seine ganze Umgebung. Wieso er noch lebte, war Professor Kraicic ein Rätsel. Darin teilte er die Ansicht der anderen Ärzte, die Rockpourth im Laufe der Jahre verschlissen hatte. Nur die Krebsdiagnose, die hielt Krai-cic für falsch. Rockpourth war schon von der Erscheinungsform her gar kein Magenkrebstyp, im Gegenteil. Er hatte sich Bilder des Lords zeigen lassen, die Rockpourth mit sich herumschleppte, um zu demonstrieren, welch ein stattlicher Kerl er einmal gewesen war; auf diesen Bildern war der Lord als dicker, schwerer Mann zu sehen, eine Kraftnatur voll Saft und Energie. Wer heute die Mumie sah, glaubte nicht daran, daß dies Lord Rockpourth sein könnte. Der Gegensatz war zu groß.
»Was ist das, Bob!« schrie Rockpourth und klopfte auf die Bettdecke. »Du warst in Sarajewo!«
»Ja, Onkel James.«
»Die erste Pille her!«
»Verzeih, aber ich habe sie nicht. Erstens hatten wir noch keine Zeit, mit Dr. Zeijnilagic zu sprechen, weil wir sofort zurück nach Mostar gefahren sind, als wir erfuhren, daß du hier bist, und zweitens.«
»Viele Worte, verdammt noch mal! Faul ward ihr alle!«
».und zweitens gibt es kein HTS mehr!«
»Was?« Lord Rockpourth starrte seinen Neffen und dann Professor Kraicic an. »Das ist doch eine Lüge, eine ganz infame Erbschleicherlüge! Man will mich verrecken lassen. Professor, jetzt hören und sehen Sie es! Keine Pillen mehr! Haha!«
Professor Kraicic nickte. »Es stimmt, Mylord. Man hat das HTS staatlich verboten. Vor zwei Tagen.«
»Ist man in Belgrad verrückt?«
»Vorsichtig, Mylord. Es gibt da Unklarheiten.«
»O diese Worte! Nur Worte! Nur Gestammel! Hat das HTS bisher geholfen? Ja oder nein?« »Ja und nein! Aber Erfolge sind keine Beweise für die Unschädlichkeit des Mittels. Es fehlen Versuchsreihen, es fehlen Überwachungen von Nachwirkungen.«