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Die Sprechstundenhilfe ließ ihn sofort in ein Privatzimmer, als Karl Haußmann seinen Namen nannte, und durch die Art, wie sie ihn behandelte, ahnte er, was er zu hören bekommen würde.

»Versuchen Sie keine schönen Umschreibungen, Doktor«, sagte er, als Dr. Borgoporte eintrat und die drei Röntgenaufnahmen auf den Tisch legte. »Ich kann die volle Wahrheit ertragen.«

Und Dr. Borgoporte zeigte ihm die Röntgenaufnahmen, erklärte sie und sagte die Wahrheit.

Erika saß, in einem ihrer neuen, verführerischen Bikinis, am Fenster zum Balkon und sah hinaus aufs Meer, als Karl Haußmann zurückkam. Sie sah wieder jung und heiter aus, wie das blühende Leben, und ihm war es, als würge ihn jemand und schüttele ihn hin und her und schlage ihn mit dem Kopf gegen die Wand. Wie schön sie ist, dachte er und hätte sich dabei zerreißen können. Nie, nie habe ich sie so schön gesehen seit unserer Hochzeitsreise vor sechsundzwanzig Jahren. Wie blind bin ich gewesen, wie gleichgültig, wie verbrecherisch uninteressiert. Und jetzt sehe ich es, jetzt.

»Was sagte der Arzt?« fragte Erika und lehnte sich zurück. Ihr Haar glänzte kupfern in der Sonne. Ihre rot geschminkten Lippen leuchteten. »Hat er die Wahrheit gesagt?«

»Ja, Erika.« Haußmann stützte sich schwer auf den kleinen Frisiertisch. »Du . siehst wundervoll aus, Rika.«

»Es ist Krebs«, sagte Erika mit fester Stimme. »Ich weiß es seit Monaten.«

Karl Haußmann schloß die Augen. Er konnte Erika jetzt nicht ansehen, während er nickte.

»Ja, es ist Krebs.« Seine Stimme schwankte und entglitt ihm.

»Und was nun?« fragte Erika. Sie beugte sich wieder vor und sah hinaus auf das in der Sonne schillernde, leicht bewegte Meer.

»Nun?« Haußmann ballte die Fäuste und drückte sie gegen seine Brust. »Nun werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich zu retten. Himmel und Hölle! Ich glaube daran, daß du wieder gesund wirst, ich glaube fest daran.«

»Willst du das denn ... daß ich gesund werde?« fragte sie. Es klang wie eine übliche Frage. Über Karl Haußmann rann es heiß und dann eiskalt.

»Aber ich liebe dich doch«, stammelte er. »Rika, ich liebe dich. Du darfst mich doch nicht verlassen. Was . soll ich denn ohne dich? Ich bin doch ein Garnichts, wenn du nicht mehr bei mir bist.« Und plötzlich hieb er auf den Tisch und trommelte mit den Fäusten auf die Glasplatte. »Himmel und Hölle werde ich in Bewegung setzen! Du wirst wieder gesund werden, Rika . du wirst es!«

Gesund werden. Als ob sich das einfach erzwingen ließe. Erika Haußmann blickte wehmütig hinaus auf die sonnenüberglänzte Adria. Dann drehte sie sich um zu ihrem Mann. Karl war noch ganz außer sich. Er stampfte mit den Füßen, hämmerte mit den Fäusten auf dem kleinen Frisiertisch herum und beschwor Himmel und Hölle. Wie ein kleiner trotziger Junge, der sich eben niemals fügen will ins Unabänderliche.

»Karl!«, rief Erika mit sanfter Stimme. Er tat ihr leid. Sie hatte mit dieser Diagnose gerechnet - für ihn aber war es ein richtiger Schock gewesen. »Was nützt es, mit dem Schicksal zu hadern.«

Er kam zu ihr, packte sie bei den Armen: »Rika, Rika! So darfst du nicht reden. Was heißt denn Schicksal? Wir werden uns dagegen wehren. Du ahnst nicht, was heute alles möglich ist. Bedenk doch, die moderne Medizin.«

Kopfschüttelnd löste sie sich von ihm.

»Machen wir uns doch nichts vor! Die einen operieren und bestrahlen. Die anderen versuchen es mit Milchsäure oder mit Diät. Jedes Jahr taucht irgendein Wundermittel auf und verschwindet wieder in der Versenkung.« Sie hob die Stimme. »Aber jedes Jahr steigt die Zahl der Krebsfälle, und die Ärzte sind sich noch nicht einmal darüber einig, ob Krebs eine lokale oder eine allgemeine Erkrankung des Körpers ist.«

Karl Haußmann schluckte ein paarmal. Er begriff: Sie hatte es vorher gewußt und schon darüber nachgelesen.

»Mein Gott, Rika. Warum hast du mir denn nie einen Ton davon gesagt? Warum hast du bloß so lange geschwiegen?«

»Habe ich das?«

Sie sagte es mit einem kleinen Lächeln. Ohne Bitterkeit. Verzeihend. Karl Haußmann nagte verlegen an seiner Unterlippe. Stimmt, dachte er, sie hat gar nicht geschwiegen. Er war immer zu müde gewesen, wenn er aus dem Büro kam, um sie anzuhören. Zu sehr mit sich selber beschäftigt. Er hatte seine Ruhe haben wollen und keine Lust verspürt, die >ewigen Klagelieder< anzuhören. »Schwindelig?« hatte er einmal geknurrt. »Das macht die Langeweile.« Und dann war er in die Wohnhalle gegangen, hatte seine Stereoanlage eingeschaltet und sich Wagner angehört. >Winterstürme wichen dem Wonnemond.< Und statt an Rika zu denken, hatte er von Marion Gronau geträumt.

»Du hättest Genaueres sagen müssen, Rika«, versuchte er sich zu rechtfertigen. Aber in seinen Augen standen Schuldbewußtsein und Reue.

Erika umarmte ihn. Sie gab ihm einen Kuß, der Karl erschaudern und an Abschied denken ließ. Als ob sie ihm entrissen werden sollte, so hielt er sie fest.

»Rika, Rika!«

Er atmete den Duft ihres Haares, das wie Kupfer schimmerte. Er spürte die Sonnenwärme ihres Körpers, und er konnte einfach nicht glauben, was ihm der Arzt eröffnet hatte.

»Rika«, stammelte er, »die Diagnose ist falsch. Sie muß falsch sein.«

»Und der Schatten auf dem Röntgenbild?«

»Was weiß ich?« Er begann wieder umherzurennen. »Was ein Arzt sagt, genügt mir nicht! Wir werden drei, vier oder auch zehn Ärzte konsultieren. Wir gehen zu den größten Kapazitäten, Rika. Ich reise mit dir um die ganze Welt.«

Erika Haußmann konnte nicht verhindern, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Das letztemal hat er sich so liebevoll um mich gesorgt, als unser Junge zur Welt kam, dachte sie. Unser Junge, der jetzt schon studiert.

Karl sah nicht, daß sie weinte.

»Am besten ist, wir fahren morgen nach Deutschland«, meinte er. »Nicht erst nach Haus, sondern gleich zur Universität nach Heidelberg.«

Erika schaute durchs Fenster nach draußen. Er sollte ihr Gesicht nicht sehen.

»Operieren lasse ich mich nicht«, sagte sie, obwohl er davon noch gar nicht geredet hatte. Aber er hatte daran gedacht. Seine Bestürzung verriet es.

»Warum denn nicht?«

»Und wenn es zu spät ist?«

»Unsinn! Wer sagt das? Wir müssen jede Chance wahrnehmen, Rika!«

»Operieren lasse ich mich nicht. Ich will so von dir gehen, wie du mich kennst. Nicht mit einem zerschnittenen Leib.«

Da war es wieder mit seiner Geduld zu Ende. Er brüllte los:

»Du sollst nicht von mir gehen, verdammt noch mal!« Und dann leiser: »Los, fang ruhig schon an, die Koffer zu packen. Ich rede in-zwischen mit den anderen. Die beiden können ja hierbleiben. Ich zahle ihnen die Rückfahrt mit der Bahn, damit sie keinen Schaden haben.«

»Nein.«

Sie kam und zog ihn zum Fenster.

»Siehst du, wie herrlich blau das Meer ist. Und dieser Blütenduft, diese seidige Luft. Laß uns bleiben, Karl. Laß mich diese vier Wochen genießen.«

Sie breitete die Arme aus und atmete tief.

»Laß uns ein Boot mieten, Karl. Bei einem Fischer. Dann rudern wir weit hinaus. Mitten in diesem blauen Wasser möchte ich schwimmen.«

Karl starrte sie an. So kannte er sie überhaupt nicht.

»Rika, ich liebe dich«, sagte er leise.

»Da, das Boot mit dem orangefarbenen Segel. Mit so einem möchte ich fahren.«

Haußmann riß sie vom Fenster weg. Er preßte sie in seine Arme. Mein Gott, wie blind war ich all die letzten Jahre, dachte er.

Später ging Karl Haußmann zum Strand hinunter. Allein. Erika blieb im Zimmer. Sie lag in einem Liegestuhl am Fenster und dachte über die vergangene Stunde nach.

Habe ich nun gesiegt? fragte sie sich.

Habe ich diese Marion Gronau aus seinen Träumen verdrängt? Habe ich wirklich meinen Mann zurückerobert? War das die Liebe wie vor zwanzig Jahren? Oder geschah alles nur in einer Aufwallung seines Mitleids und seines Schuldbewußtseins?