»Heraus! Alle!«, kommandierte einer der Wächter. Die Stimme, die durch das Kraftfeld der Panzerung drang, war hart und kalt wie bei einem Trickfilmroboter.
»Und wie befehlen Sie meine Fortbewegung?«, fragte Semetzki streitsüchtig. »Gebt den Rollstuhl zurück! Oder wollt ihr mich auf Händen tragen?«
Der Wärter neigte den Kopf, als ob er einer leisen Stimme zuhörte. Er nickte. »Den Rollstuhl bekommen Sie umgehend zurück.«
»Habt ihr alles überprüft, keine Bomben gefunden?«, erkundigte sich Semetzki giftig. »Ihr habt ihn doch nicht etwa in seine Einzelteile zerlegt?«
»Das haben wir«, bestätigte der Wärter.
»Schreibt mir eine Rechnung, ich werde euch für die Wartung dieses antiken Stückes entlohnen«, versprach Semetzki gallig.
Kapitel 6
Als wir durch die Korridore geführt wurden, war ich mir sicher, dass wir uns noch im Kosmodrom befanden. Ein Teil des Weges führte durch eine hermetisch abgeschlossene Rohrgalerie, die sich unter dem Dach der Wartehalle entlangzog. Zwanzig Meter tiefer zeigte sich das Leben voller Lärm und Menschen, vollkommen alltäglich. Passagiere mit Koffern, mit Gepäckwagen und Taschen. Aufgeregte, lautlos gähnende Kinder wirbelten umher, in den Cafés warteten die Passagiere auf ihre Flüge, vor den Check-in-Schaltern bildeten sich kurze Warteschlangen. Es gab außergewöhnlich viele Militärs, für sie war ein Teil der Halle abgesperrt. Dort verloren sie sich in einer einheitlich graugrünen, schwankenden Masse.
Worauf wartete Stasj?
Auf die Landung der Eingreiftruppe des Imperiums?
Aber das wird ein blutiges Gemetzel und keine Rettung für uns. Inej ist zum Krieg bereit. Die Männer und Frauen würden kämpfen, die Kinder kratzen und beißen, die gelähmten Alten die Soldaten mit Flüchen überhäufen. Das wäre keine Rettung für uns.
Worauf nur wartete Stasj?
Ich schaute ihn von der Seite an, selbstverständlich ohne ihm diese Frage zu stellen. Stasj war als Einziger von uns mit Handschellen gefesselt. Nicht mit modernen Magnetfesseln, sondern mit normalen metallenen mit einer Kette zwischen den Schellen. Das störte ihn übrigens überhaupt nicht. Er unterhielt sich leise mit Semetzki, der seinen Rollstuhl fuhr. Die Wächter beobachteten sie, griffen jedoch nicht in das Gespräch ein.
Nachdem wir den Wartesaal verlassen hatten, gingen wir noch eine ganze Zeit durch Korridore im Dienstbereich des Kosmodroms. Hier begegneten wir auffallend vielen Militärangehörigen. In einem Saal, an dem wir vorbeigingen, waren die Soldaten wie die Sprotten zusammengepresst. Sie saßen auf dem Boden und hielten lange Strahlenkarabiner alter Bauart in den Händen. Durch die weit geöffneten Türen schlug uns der saure Geruch von Schweiß entgegen, die Ventilation war überfordert. Als ob sie hier schon seit Tagen sitzen würden!
Und trotzdem war auf den Gesichtern der Soldaten ein ernstes, gefestigtes und erhabenes Gefühl zu sehen.
Wie können die Soldaten des Imperiums gegen Millionen von Fanatikern kämpfen?
»Tikkirej, hast du keine Angst?«, fragte mich Stasj.
Ich schüttelte den Kopf.
»Früher einmal hatte ich große Angst vor dem Tod«, sagte Stasj. »Eigentlich nicht vor dem Tod an sich… irgendwie hatte ich immer die Vorstellung eines Friedhofs im Winter: kalter Wind über eisiger Erde, die nackten Zweige der Bäume und niemand in der Nähe. Kein Mensch, kein Vogel, kein Tier. Unheimlich. Ich hatte sogar beschlossen, um meine Beerdigung auf einem warmen Planeten zu bitten… wenn etwas zum Beerdigen übrig blieb. Zum Beispiel auf Inej.«
»Ist Inej etwa ein warmer Planet?«, wollte ich wissen. Als ob das von Bedeutung wäre!
»Sehr sogar. Dort gibt es keinen Frost. Der Planet erhielt diesen Namen wegen seines Anblicks aus dem Alclass="underline" Infolge der Besonderheit des Klimas sind die Wolken auf Inej lang und dünn, fedrig, als ob der gesamte Planet mit Reif bedeckt wäre. Das klingt lustig, oder?« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Aber jetzt denke ich, dass Neu-Kuweit keinen Deut schlechter ist.«
»Stasj, warum belastest du den Jungen damit!«, fragte Semetzki vorwurfsvoll.
»Wir nehmen Abschied«, erwiderte Stasj ruhig. »Tikkirej, ich möchte, dass du verstehst, dass einem jeden das Leben mit unterschiedlichem Maß zugemessen wird. Aber die Möglichkeit, seinen Tod zu wählen, gibt das Leben einem jeden. Vielleicht ist das wichtig.«
Schweigend schritten wir weiter. Ich wollte Stasj anfassen, befürchtete jedoch, dass seine Handfläche kalt wie Eis sein würde.
Endlich betraten wir einen Saal und die Wächter blieben stehen.
Ein eigenartiger Ort. Ich hatte erwartet, dass wir in ein Krankenzimmer gebracht würden, da Ada Schnee verwundet war. Oder in ein Office.
Das hier war ein Mittelding zwischen Werkhalle und Labor. Balken und Krane unter der Decke, Metallgitterbrücken über gigantischen Kesseln und Becken. Riesige Drehbänke, zwar abgeschaltet, aber trotzdem seltsame Geräusche von sich gebend. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie bei der Arbeit dröhnten.
»Unterhaltsam«, meinte Stasj. »Das ist ein Werk zur Aufbereitung atomarer Brennstäbe. Herrgott, werden wir ein Drama aus dem Arbeitsleben zu sehen bekommen?«
Die Wächter antworteten nicht. Es schien ganz so, als wären auch sie über den Ort, an den sie uns gebracht hatten, erstaunt.
»Bringt sie her«, ertönte eine Stimme aus dem Hindergrund. Die bekannte Stimme von Oma Ada.
Unter Bewachung gingen wir zwischen den Drehbänken und Kesseln entlang. Um uns herum dröhnte, klopfte und schrillte es — die abgeschalteten Geräte führten ihr eigenes Leben weiter. Semetzkis Rollstuhl schepperte über den Gitterboden und fügte der ganzen Sinfonie eine verwegene Note hinzu.
Danach nahmen wir eine gewundene Auffahrt zu einer Metallplattform direkt unter der Decke, bei den verschlafen herumhängenden Kränen.
Ada Schnee sah unverändert aus, als ob ihr mein Treffer kaum Schaden zugefügt hätte, war nach wie vor in Jeansanzug und Schuhen mit hohen Plateausohlen gekleidet, trug aber an Stelle des Kopftuchs einen schwarzen Turban, der die grauen Haare zusammenhielt. Sie sah allerdings etwas blass aus. Und ihre linke Schulter wirkte aufgebläht, war verbunden und in ein Regenerationskorsett gesteckt, das aus ihren Sachen herausschaute.
Ada Schnee war nicht allein. Neben ihr stand Alla Neige! Jetzt war zu erkennen, wie ähnlich die beiden einander waren. Hinter dem Rücken der Frauen sah ich zwei junge Männer. Zuerst hielt ich sie für Leibwächter, aber dann…
Dann ging ein Frösteln durch mich. So also werde ich mit dreißig Jahren aussehen! Mit Blastern in der Hand standen zwei männliche Klone von Oma Ada auf der Plattform. Der eine lächelte mir zu, der andere nickte. Ich wandte die Augen ab. Es war gruselig, sie anzusehen.
»Der Phag wird gefesselt«, befahl Schnee. »Dem alten Krüppel nehmt ihr das Kabel für den Neuroshunt weg. Die Übrigen können sich frei bewegen.«
Der Befehl war schnell ausgeführt. Stasj, der sich leicht dagegen sträubte, wurde an das Metallgeländer am Rande der Plattform gefesselt, indem die Handschelle an der linken Hand gelöst und ans Geländer geschlossen wurde. Bei Semetzki wurde das Kabel aus dem Shunt gerissen, sodass er zwar im Rollstuhl saß, aber hilflos war.
»Sind Sie sicher, dass wir Sie allein lassen sollen?«, fragte einer der Leibwächter.
»Ja, Sergeant«, nickte Ada Schnee. »Wir haben die Situation unter Kontrolle.«
»Es ist nicht nötig…«, sagte Alla Neige leise.
Die Frauen wechselten Blicke. Dann befahl Ada: »Postiert euch am Rand der Plattform. Passt auf. Beobachtet den Phagenjungen und auch die anderen.«
Die Leibwächter schauten sich triumphierend an und entfernten sich. Erst danach fing Schnee wieder an zu sprechen:
»Ich begrüße Sie, meine Herrschaften, im Namen der Föderation. Frau Präsidentin Snow bat mich, ihr Bedauern zu überbringen, dass sie nicht anwesend sein kann. Sie führt wichtige Verhandlungen mit den Halflingen.«
»Das macht nichts«, antwortete Stasj. »Wir haben Verständnis dafür. Der Verkauf der Menschheit im Ganzen ist eine aufwändige Tätigkeit.«