Deshalb fiel es mir genauso schwer, die Alte »Oma Ada« zu nennen. Das erste Mal zumindest…
»Oma Ada… ich brauche Ihren Rat…«
Sie nickte und setzte sich auf die Liege.
Ich nahm auf einem Stuhl Platz und holte Luft: »Es stimmt, ich habe gelogen. Ich war nicht allein im Gepäck. Meine Freunde haben sich auch versteckt.«
»Phagen?«, fragte die Alte und nickte die ganze Zeit über.
»Nein, sie sind keine Phagen… Lion und Natascha… sind normale Jugendliche. Und, ehrlich gesagt, ich bin auch kein richtiger Phag, ich bin ein zeitweise hinzugezogener Helfer.«
Oma Ada störte sich nicht an meiner anfänglichen Übertreibung und ermutigt fuhr ich fort: »Ein echter Phag ist unser Freund, der uns hilft, vom Planeten zu fliehen. Wir wurden auf Neu-Kuweit als Aufklärer eingeschleust, aber wir konnten eigentlich nichts Wesentliches in Erfahrung bringen, als wir auch schon entlarvt wurden. Wir versuchen zu fliehen…«
»Im Gepäck?« Die Alte schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Und das Mädchen ist auch im Gepäck? Und was wird aus ihr im Zeittunnel?«
»Darum geht es ja gerade!«, rief ich. »Sta…, unser Freund sollte uns in der Kajüte aus den Koffern herausholen und Natascha wäre in Anabiose gelegt worden. Aber diese idiotischen Gepäckträger haben im Raumschiff keinen Platz für das Gepäck gehabt und sich dafür entschieden, alles in den Frachtraum zu laden! Und dorthin gibt es keinen Zugang vom Passagierbereich! Wenn… wenn unser Freund nicht rechtzeitig davon erfährt, stirbt Natascha!«
»Und für dich war wohl kein Platz mehr?«, hakte Oma Ada nach. »Dich haben sie bis zum nächsten Flug zurückgestellt?«
»Hm. Kommt das oft vor?«
»Manchmal.« Die Alte dachte nach.
»Gut, dass ich Sie habe«, meinte ich erleichtert. »Ich weiß nämlich nicht, was ich machen soll. Ich habe Angst, den Phagen zu verraten. Aber er muss doch irgendwie gewarnt werden!«
»Ich werde es versuchen«, sagte die Alte ganz einfach. Das fand ich wirklich mutig.
»Wer ist dein Freund?«
Ich schwankte noch, obwohl das dumm war.
Oma Ada wischte mit folgenden Worten meine Zweifel weg: »Etwa derselbe Mister Smith, dem die Koffer gehören?«
»Ja«, murmelte ich. »Nur, dass er in Wirklichkeit gar nicht Mister Smith ist. Das ist eine doppelte Tarnung, verstehen Sie? Er gibt sich aus für… einen anderen Menschen, und die Regierung des Inej nennt eben diesen Menschen mit anderem Namen, um nicht zufällig publik zu machen, wer zu Besuch kam. Das ist alles sehr verwirrend.«
»Ich verstehe«, erwiderte die Alte ernsthaft. »Eine richtige Spionagegeschichte… Bleib hier, Tikkirej. Und ich versuche, zu deinem Mister Smith Kontakt aufzunehmen. Was soll ich ihm sagen, damit er mir glaubt, dass du mich geschickt hast?«
Ich dachte nach.
»Sagen Sie ihm, dass ich jetzt vor jedem neuen Planeten einen Immunmodulator einnehme und keine Angst vor der Beulenpest habe.«
Oma Ada lächelte.
»Gut. Geh nirgendwohin, Tikkirej! Hierher kommt niemand, ich blockiere die Tür, manchmal schaut jemand in die Lagerhalle… Musst du noch einmal auf die Toilette?«
»Nein«, antwortete ich und wurde rot.
»Dann warte. Trink Tee, iss Plätzchen… hausgemachte, ich habe sie selbst gebacken. Oje, was habt ihr Phagen euch nur dabei gedacht? Zieht kleine Kinder in eure Kriege hinein, versteckt sie in Koffern, gebt ihnen Waffen in die Hände… das ist nicht mehr human… ganz und gar nicht human…«
Sie schüttelte den Kopf, ging hinaus und das Türschloss klickte kurz.
Oma Ada war kaum verschwunden, als ich aufsprang und das Zimmer in Augenschein nahm.
Hatte ich richtig gehandelt, ihr alles zu gestehen? Vor allem, Stasj zu hintergehen? Aber was hätte ich denn anderes tun können, um Natascha zu retten? Und was machte es schon aus, redete ich mir zu, ob sich hinter dem Namen »Mister Smith« ein Phag verbarg oder nicht? Es war so und so klar, wer uns geholfen hatte, sich in den Koffern zu verstecken…
Nicht zu ändern, das war nachvollziehbar. Aber wenn mich die Alte nun verriet? Vielleicht sollte ich besser fliehen? Das Schlangenschwert öffnet das Schloss in zwei Arbeitsgängen.
Aber wohin fliehen? Dieses Mütterchen war nicht hirnamputiert, darin hatte ich Glück, aber die meisten Leute in der Umgebung waren ergebene Diener von Inna Snow.
Wenn Oma Ada Alarm schlägt, fangen sie mich auf alle Fälle. Und wenn sie keinen Alarm schlägt, brauche ich nicht zu fliehen, überlegte ich fieberhaft.
Ich musste sogar lachen, als mir klar wurde, dass von mir gar nichts mehr abhing. Überhaupt nichts! Was waren die Phagen bloß für Dummköpfe! Wie waren sie nur darauf gekommen, dass Lion und ich ihnen nützlich sein könnten? Wertvolle Informationen hatten sie nicht erhalten, die Aktion war aufgeflogen und Stasj unsertwegen ein Risiko eingegangen…
Ich ging zum Tisch zurück und schüttelte den Teekessel. Er war fast voll. In einem winzigen Handwaschbecken spülte ich die einzige Tasse aus und goss mir Tee ein. Ich kostete die Plätzchen — sie schmeckten wirklich gut.
Die letzten Worte Oma Adas gingen mir nicht aus dem Kopf. »Was habt ihr Phagen euch nur dabei gedacht?«
Phagen waren keine Dummköpfe.
Phagen waren alles Mögliche, nur keine Dummköpfe.
Wenn sie Lion und mich nach Neu-Kuweit geschickt hatten, bedeutet das, dass es notwendig war.
Aber warum?
Und auf einmal stieg in meiner Seele eine dumpfe, widerwärtige Wehmut auf. Ich versuchte sie zu vertreiben, an etwas Schönes zu denken, aber in meinem Kopf kreiste ein und derselbe Gedanke.
Phagen waren keine Dummköpfe. Wir wurden eben deshalb geschickt, damit uns die Spionageabwehr des Inej fand.
Ich trank den Tee aus, ohne ihn zu schmecken. Schenkte mir nochmals ein. Wie lange dauerte das denn nur, wo blieb Oma Ada? Sie musste doch lediglich zum zuständigen Terminal gehen, mit der Jacht Richtung Inej Verbindung aufnehmen und um ein Gespräch mit Mister Smith ersuchen…
Warum nur hatten uns die Phagen als Lockvögel benutzt? Es ergab doch keinen Sinn, überhaupt keinen! Viel Aufwand und wenig Nutzen — die Landung organisiert, wertvolle Ausrüstung verschwendet. Allein die Eiskapsel kostete ein Vermögen!
Ich verstand es einfach nicht. Ich war eben wirklich noch ein kleiner, dummer Junge. Das waren alles Erwachsene — Imperium und Inej, Phagen und Agenten der Spionageabwehr -, die ihre Erwachsenenspiele spielten. Und ich war dort hineingeraten, weil Stasj ein guter Mensch war, genau deswegen.
Und sofort erhob sich das dünne, widerliche Stimmchen in der Seele und flüsterte mir zu: »Bist du dir sicher, dass Stasj ein guter Mensch ist?«
Er selbst hatte mir ja erklärt, dass unsere Zivilisation sehr pragmatisch und grausam sei. Natürlich sagte er, dass das nicht in Ordnung wäre, aber vielleicht dachte er in Wirklichkeit ganz anders? Vielleicht hatte ich damals Recht und er nahm mich von Neu-Kuweit nur als Versuchskaninchen mit?
Was so alles durch ein paar unvorsichtig geäußerte Worte bewirkt werden konnte! Ich begann an meinem einzigen Freund, meinem einzigen erwachsenen Freund zu zweifeln!
Vor lauter Zorn schlug ich mit der Faust dermaßen stark auf den Tisch, dass ich beinahe den Tee verschüttet hätte. Zur Ablenkung schaltete ich den Computer an und versuchte mich ins Netz einzuklinken. Leider gab es nur eine Verbindung zum Intranet des Kosmodroms und auch dort nur zur Abteilung Gepäckmanagement. Computerspiele, die gewöhnlich auf allen Computern installiert werden, gab es mit Ausnahme von »Minensucher« und einer Patience nicht. Deshalb durchstöberte ich das Suchsystem nach dem Gepäck des »Mister Smith«, aber das System erwies sich als äußerst unübersichtlich und war deshalb nicht zu verstehen. Mit Müh und Not fand ich die Liste des heute verladenen Gepäcks, aber da hörte ich das Türschloss klicken. Weil mir meine Computertätigkeit peinlich war, schaltete ich ihn aus.