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Kapitän Stasj schwieg.

»Verzeihen Sie«, sagte ich.

»Wo wohnt dein Freund?«, fragte Stasj.

»Es ist gleich hier, nicht weit weg!«, rief ich aus. »Kommen Sie, es dauert nur eine Minute!«

Im Wirklichkeit hatte man rund fünf Minuten zu gehen. Mir kam es aber vor, als ob wir eine Viertelstunde bräuchten. Stasj schritt weit aus, ich lief nebenher und hielt mit Müh und Not Schritt. Stasj hielt die ganze Zeit die rechte Hand etwas entfernt vom Körper, und ich war davon überzeugt, dass jederzeit ein Feuerball explodieren könnte.

»Und das ist trotzdem ein Schlangenschwert…«, meinte ich schnell atmend.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es kein Schwert ist«, wies mich Stasj zurecht, »eine Plasmapeitsche ist entschieden universeller.«

Die Cottagetür stand noch offen. Stasj schaute schnell ins Schlafzimmer von Lions Eltern, fühlte ihnen den Puls, führte die Handfläche über das Gesicht und schaute dann traurig. Ohne etwas zu sagen, ging er ins Kinderschlafzimmer.

»Ist das dein Freund?«

»Ja!«

»Wir haben noch niemanden in der Phase der Wiedergeburt beobachtet«, meinte Stasj. »Ich hätte den kleineren Jungen bevorzugt, er ist leichter zu tragen. Aber wenn du willst, nehmen wir deinen Freund. Und… und versuchen ihm zu helfen. Es gibt keine Erfolgsgarantien, das verstehst du hoffentlich.«

Ich verstand, dass es zwecklos war, wegen Lions Eltern nachzufragen. Und wegen seines stillen, schweigsamen Schwesterchens und seines unruhigen Brüderchens auch.

Trotzdem fragte ich:

»Und wenn wir noch…«

»Auf diesem Planeten«, wiederholte Stasj müde, »gibt es Millionen von Kindern, die dieses Leid getroffen hat. Man kann allem oder keinem helfen. Ich habe mich schon bereit erklärt, deinen Freund mitzunehmen, Tikkirej.«

»Ich werde ihn selber tragen«, sagte ich mutig.

»Wohl kaum«, meinte Stasj und ließ seine Tasche fallen, »kriegst du sie weg?«

Ich hob sie an. Sie war schwer, aber entschieden leichter als Lion. Das war offensichtlich.

»Ja. Natürlich.«

Mit wenigen Bewegungen wickelte Stasj Lion in eine Decke und warf ihn sich über die Schulter. Schweigend ging er hinaus.

»Verzeiht«, sagte ich zu dem kleinen Jungen und dem kleinen Mädchen, die in ihren Betten einen seltsamen, nicht menschlichen Schlaf schliefen, »verzeiht uns, bitte.«

Mein Köfferchen stand auf der Schwelle, ich schnappte es mir ebenfalls. Gebückt unter der Last folgte ich Stasj. Wir gingen an einigen Autos vorüber, ehe Stasj auf einen bescheidenen Jeep zuging. Er öffnete die Tür — das Schloss gab keinen Piepser von sich, machte sich eine Sekunde lang an der Kontrolleinheit zu schaffen und die Blockade erlosch. Lion legte er auf den Rücksitz und nickte mir zu: »Steig ein!«

Ich setzte mich neben Lion und legte seinen Kopf auf meine Knie, damit er nicht so wackelte. Er befand sich nach wie vor in einem tiefen Schlaf.

»Was ist mit ihm, Kapitän Stasj?«

Das Auto heulte auf und fuhr auf den Weg, der durch das gesamte Motel führte.

»Er ist im Stadium der Wiedergeburt, Tikkirej«, antwortete Stasj lustlos. »Nach unseren Informationen erfasst dieser fünfzehn Stunden dauernde Schlaf die gesamte… fast die gesamte Bevölkerung der von Inej angegriffenen Planeten. Danach schließen sie sich freiwillig Inej an.«

»Kann man ihm helfen?«

»Ich weiß es nicht.«

Das Auto erreichte die Straße, aber zu meiner Überraschung fuhr Stasj nicht zum Kosmodrom, sondern Richtung Stadt.

»Warum fahren wir dorthin?«, fragte ich erschrocken. Ich wollte nur weg, meinetwegen zurück zum Karijer, aber weit weg von Neu-Kuweit.

»Ich möchte einen Blick auf den Sultanspalast werfen. Gestern wurde auf meinen Rat hin die Schutzfeldkuppel eingeschalten. Vielleicht konnte sich die Regierung retten. Dann besteht eine Chance, die Flotte zu Hilfe zu rufen.«

»Sie kennen den Sultan persönlich?«, fragte ich verwundert.

»Ja.«

»Kapitän Stasj, heißt das, Sie hätten einfach darum bitten können, dass man mir die hiesige Staatsbürgerschaft gibt?«

»Ich beschäftige mich nicht mit der Klärung unwichtiger Probleme kleiner Jungs«, erwiderte Stasj müde. »Wenn du glaubst, dass ich während meiner Unterredung mit dem Sultan an deine Existenz gedacht hätte, dann machst du dir etwas vor.«

Ich schwieg, umarmte Lion und hielt ihn fest. Die Straße war hervorragend und Stasj ein guter Fahrer, aber er fuhr mit so hoher Geschwindigkeit, dass wir trotzdem von einer Ecke in die andere geschleudert wurden.

»Es gibt da ein Buch, ›Don Quichotte‹«, meinte Stasj plötzlich. »Dessen Held hielt es für nötig, alle Ungerechtigkeiten, die er auf seinem Weg antraf, zu beseitigen. So schlägt zum Beispiel ein böser Meister den kleinen Jungen, der bei ihm in Dienst stand. Also muss Don Quichotte diesen Herrn bestrafen und danach fährt er weiter. An das, was passieren wird, wenn der Meister wieder mit dem Kind allein ist, daran dachte der naive Ritter nicht. Ist die Analogie verständlich?«

»Ist der Sultan etwa so bösartig?«

»Nein, aber seine Geheimdienste sind argwöhnisch. Da sie mein Vorstoß überraschte und verwunderte, bedachten sie mich mit einer so großen Aufmerksamkeit, dass auch du irgendwann vor Verzweiflung die Wände hochgegangen wärst! Und zweitens, ich beschäftige mich nicht…«

»… mit der Klärung unwichtiger Probleme«, beendete ich. »Danke, Kapitän Stasj.«

Wir fuhren in die Stadt. Wohngebiete mit niedrigen, vielleicht zehn- bis zwölfgeschossigen Häusern zogen sich dahin. Scheinbar war hier alles beim Alten — die Straßenlaternen und Reklametafeln leuchteten, fast alle Fenster waren hell erleuchtet.

Laut rief ich: »Sehen Sie nur, Stasj, hier ist alles in Ordnung!«

Und wirklich, fast in jedem Fenster waren Menschen zu sehen. Sie waren festlich gekleidet, tanzten oder tafelten, unterhielten sich am Kaminfeuer. Sie schmückten Weihnachtsbäume oder bauten Raketenmodelle zum Tag der Raumfahrt…

Ich schüttelte den Kopf und verstand die Welt nicht mehr.

»Du bist auf einem äußerst zurückgebliebenen Planeten aufgewachsen, Tikkirej«, sagte Stasj sanft. »Das sind Projektionsfenster, sie kamen vor ungefähr zehn Jahren in Mode. Auf Neu-Kuweit ist fast jedes Haus damit bestückt. Verstehst du, du zeichnest auf dein Fenster irgendeinen schönen und bedeutenden Feiertag auf, eine Hochzeit, Silvester, Geburtstag, und dann überträgt dein Fenster abends diese Bilder. Jeder ist bestrebt, seiner Umgebung zu zeigen, wie gut er feiern kann, wie schön und gemütlich es bei ihm ist. Wem es an eigener Phantasie oder an eigenem Können mangelt, um eine behagliche Atmosphäre zu schaffen, der bestellt die Bilder bei einem Designer.«

»Aha«, meinte ich, »davon habe ich gelesen. Ich habe es schon kapiert. Auf den Straßen sind weder Menschen noch Autos. Überhaupt keine. Es können ja nicht alle schlafen, stimmt’s?«

Ein Fenster zeigte gerade eine Hochzeit. Eine junge Braut, vielleicht siebzehn Jahre alt, küsste einen ebenso jungen Bräutigam. Das ist eigenartig, denn in Wirklichkeit sind sie schon völlig erwachsene Leute, sie könnten Kinder haben, die älter sind als ich, aber ihre Hochzeit geht weiter. Es wird Hochzeit gefeiert… und sie liegen im Bett und sabbern.

»Gefällt dir diese Mode?«, wollte Stasj wissen.

»Nein«, flüsterte ich.

»Mir auch nicht. Ich mag nicht einmal das gewöhnliche Video, Tikkirej. Auch keine Fotos. Die Erinnerung ist das, was in dir ist.«

Das Auto bog auf eine breite Allee ein und nach weiteren fünf Minuten erreichten wir den Sultanspalast. Er war sehr schön und sehr groß, bestimmt hat nur der Imperator auf der Erde einen größeren Palast.

Stasj stöhnte leise. Lange und deftig fluchte er in einer unbekannten Sprache — ich verstand nicht ein einziges Wort, aber es gab keinen Zweifel daran, dass er fluchte.