Blödsinn.
Natürlich hatte er Bescheid gewusst, wer sich dort im Fonds seines Wagens verbarg. Mehr noch. Er musste mit diesem jemand unter einer Decke stecken. Ihr wurde schlagartig speiübel, als die Überlegung zur Gewissheit reifte. Es war kein spontaner Überfall gewesen. Er hatte sie nicht zufällig angesprochen und vorgeschlagen, mit ihm das Lokal zu wechseln.
Nein, er hatte von Beginn an den Plan gehabt, sie in eine Falle zu locken. Und sie war ihm voll auf den Leim gegangen.
Sie versuchte, sich zu beruhigen und ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen, indem sie sich auf die Umgebung konzentrierte. Zunächst hörte sie nur ihr eigenes Blut, das wild hinter ihren Schläfen pulsierte.
Aber je länger sie so dalag und sich auf die Dunkelheit einließ, desto differenzierter nahm sie ihre Umgebung wahr.
Sie vernahm das sonore Geräusch eines Motors. Sie fuhren also. Wohin, das wusste sie nicht. Vermutlich zu irgendeinem Versteck. Der Leichenwagen, sie ging davon aus, dass sich der Sarg noch immer in diesem befand, obwohl sie sich dessen nicht einhundertprozentig sicher sein konnte, wippte weich auf und ab, wenn er auf eine Unebenheit im Straßenbelag traf.
Abgesehen von dem Motorengeräusch konnte sie noch etwas hören. Weit entfernt und nur, wenn sie sich vollkommen darauf konzentrierte.
Stimmen.
Sie waren also tatsächlich zu zweit. Mindestens. Oder hörte sie lediglich Radiostimmen? Nein, die eine Stimme gehörte Kid, davon war sie überzeugt. Die andere Stimme sagte ihr nichts. Sie musste dem geheimnisvollen Unbekannten gehören.
Obwohl Sandy sich voll auf die Unterhaltung der beiden Personen konzentrierte, konnte sie lediglich Bruchstücke des Gespräches verstehen.
„Gefallen… wirklich hübsch… dieses Mal vorsichtiger… nicht dauernd… beschaffen.“
„…nichts dafür…“ Nun redete der andere. „War sie hinüber… weggeschafft…“
„Ja… aber… nicht weiter… Abstände… immer kürzer…“
Sandy wurde schlecht. Natürlich konnte sie sich irren und sich etwas völlig Falsches aus den Wortfetzen zusammenreimen. Aber die Befürchtung, verrückten Killern in die Falle gegangen zu sein, fraß sich mehr und mehr in ihrem Bewusstsein fest.
Gerade als eine neue Panikwelle über sie hinwegzuschwappen drohte und sie einen weiteren vergeblichen Versuch startete, sich von ihren Fesseln zu befreien, spürte sie eine Bewegung in ihrer rechten Hosentasche.
Brrr… Brrr… Brrr….
Ihr Handy!
Sie hatten vergessen, ihr das Handy abzunehmen. Zwar war der Klingelton ausgeschaltet, doch den Vibrationsalarm hatte sie standardmäßig aktiviert.
Sie musste nur rangehen und dem Anrufer mitteilen, dass sie gerade von zwei Verrückten in einem Leichenwagen durch die Gegend gekarrt wurde und schon konnte sich die Polizei auf die Suche nach ihr machen.
Brrr… Brrr… Brrr….
Die Sache hatte nur einen einzigen Haken. Sie war ziemlich fachmännisch verschnürt worden und hatte keine Chance, das Telefon aus der Hosentasche zu holen, um das Gespräch anzunehmen.
Wieder riss sie an den Klebestreifen an ihren Handgelenken und wieder erreichte sie nichts. Diese Wahnsinnigen hatten wirklich ganze Arbeit geleistet.
Brrr… Brrr… Brrr….
Das Handy vibrierte zum dritten und letzten Mal. Jetzt würde die Mailbox anspringen und den Anrufer bitten, eine Nachricht zu hinterlassen. Keine Chance, jemandem von ihrer misslichen Lage zu berichten. Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Sie schlug wild mit dem Kopf hin und her, stieß schmerzhaft gegen die Wände des Sarges. Sie versuchte zu schreien, aber durch die Metallkugel in ihrem Mund brachte sie nur ein leises Grunzen zustande.
Ein lauter Knall ließ sie zusammenzucken. Sie konnte sich irren, aber sie hatte das Gefühl, dass das Geräusch seinen Ursprung direkt unter ihr hatte.
Beinahe zeitgleich begann der Wagen zu schlingern. Sandy vermutete, dass er über die Fahrbahn schleuderte, wobei er mehrfach ruckartig die Richtung wechselte. Ihr Kopf wurde nach rechts und links geworfen. Sie rechnete jeden Augenblick damit, dass der Wagen sich auf die Seite legen und kippen würde.
Aber das geschah nicht.
Schließlich ebbten die Bewegungen ab und das Motorengeräusch erstarb.
Schlagartig wurde es still.
Totenstill.
KAPITEL 10
Der alte Opel Kadett knatterte mit geöffnetem Verdeck dem Sonnenuntergang entgegen. Die Luft roch nach Kiefern und der auflandige Wind blies dem Fahrer salzige Seeluft um die Nase.
Doch trotz der scheinbaren Idylle befand sich seine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Seit einer gefühlten Ewigkeit kurvte Ronnie nun schon durch die Gegend.
Und, was hatte er erreicht?
Nichts. Rein gar nichts.
Es war totale Zeitverschwendung gewesen.
Das Cabrio machte einen bedenklichen Schlenker in Richtung Straßengraben, als Ronnie eine halbleere Cola-Flasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes angelte. Er fing den Wagen gerade noch rechtzeitig ab, bevor er die Straße verließ, wo er garantiert gegen einen der in kurzen Abständen Spalier stehenden Bäume geprallt wäre. Die Flasche zwischen die Oberschenkel geklemmt, öffnete er den Schraubverschluss, bevor er sie schließlich zu einem großen Schluck ansetzte.
Er setzte erst wieder ab, als er am Straßenrand etwas bemerkte.
Etwa zweihundert Meter von ihm entfernt stand ein Wagen. Ein Kombi. Zwar war das Warnblinklicht nicht eingeschaltet, aber Ronnie war sicher, dass der Wagen sich nicht bewegte. Er verschloss die Flasche, ließ sie auf den Boden zurückgleiten und drosselte das Tempo.
Langsam rollte der Wagen auf das abgestellte Fahrzeug zu. Er kniff die Augen zusammen, um gegen die tief stehende Sonne überhaupt etwas erkennen zu können, die vom Lack des abgestellten Fahrzeugs grell reflektiert wurde. In der untergehenden Sonne schien der Wagen regelrecht zu glühen und weckte in Ronnie die Assoziation an ein in der Wüste gestrandetes Raumschiff.
Eine Person kniete neben dem abgestellten Fahrzeug und betrachtete offenbar den linken Vorderreifen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus, als er erkannte, dass es sich bei dem Wagen nicht um einen gewöhnlichen Kombi handelte.
Es war ein Leichenwagen.
Als Ronnie sich weiter näherte, erhob sich die Person und trat winkend auf die Fahrbahn.
Verdammt, mach, dass du da wegkommst. Oder ich fahre dich platt, dachte Ronnie, dem der Sinn überhaupt nicht danach stand, anzuhalten und dem Fremden seine Hilfe anzubieten.
Er hupte, aber der Typ machte keinerlei Anstalten, die Straße zu verlassen.
Im Gegenteil.
Mit langsamen Schritten ging er Ronnies Wagen entgegen und bedeutete ihm mit einer ausladenden Geste, anzuhalten.
Ronnie überlegte einen kurzen Augenblick, ob er weiter auf die Person zuhalten und im letzten Augenblick ausweichen und an ihr vorbei fahren sollte. Was, wenn es sich um eine Falle handelte? Er hatte schon öfter davon gehört, dass Überfälle mittels vorgetäuschter Autopannen durchgeführt worden waren. Doch was, wenn dieser Mann tatsächlich Hilfe benötigte?
Er trat auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Opel zum Stehen. Nur wenige Zentimeter vor den Schienenbeinen des Fremden.
„Mann, sind Sie lebensmüde? Ich hätte sie um ein Haar umgefahren! Wieso um alles in der Welt stellen Sie sich mitten auf die Straße?“ Ronnie beäugte den Fremden misstrauisch und ließ den Motor seines Wagens laufen.
Bereit, jederzeit Vollgas zu geben.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufhalte. Aber ich habe ein kleines Problem.“
Ronnies Blick wanderte hinüber zu dem abgestellten Fahrzeug. „Reifenpanne?“