„Vanessa?“
Die junge Frau kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Sören, nehme ich an?“
Er nickte. „Freut mich, dass Sie noch gekommen sind.“
„Mich freut es, dass Sie noch da sind. Normalerweise bin ich nicht so unpünktlich. Da ist wohl mindestens eine dicke Entschuldigung fällig.“
„Kein Problem. Vergessen Sie es einfach.“
Er deutete ihr mit der Hand, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen.
„Wollen wir das Sie nicht weglassen? Ich fühle mich dann so schrecklich alt.“
„Das sagen ausgerechnet Sie? Aber von mir aus gerne. Ich finde es für die Zusammenarbeit ohnehin besser, wenn man per Du ist.“
Sie reichte ihm die Hand.
Ihm fielen ihre gepflegten Fingernägel auf. Wahrscheinlich war ihre Verspätung auf eine Sitzung im Nagelstudio zurückzuführen.
„Das freut mich. Also noch einmal. Offiziell, sozusagen.“
Ihr Lächeln gefiel ihm. Es wirkte offen, sympathisch. Und irgendwie kumpelhaft.
„Vanessa.“
Er reichte ihr ebenfalls die Hand, doch bevor er etwas sagen konnte, tauchte der grauhaarige Pinguin wieder an ihrem Tisch auf.
„Möchten Sie was bestellen? Wir haben hausgemachten Apfelstrudel im Angebot.“
„Nein danke. Aber eine Cola light wäre super.“
„Natürlich. Ich dachte mir schon so was.“ Dann verschwand sie wieder.
„Was ist denn mit der los?“, fragte Vanessa und sah zu, wie die Kellnerin in einer Tür mit der Aufschrift Privat verschwand.
„Mach dir nichts draus. Die Dame hat einen schlechten Tag.“ Er zögerte kurz, bevor er weiter sprach. „Vanessa, ich fürchte, ich muss dir etwas gestehen. Ich habe dich angelogen.“ Er betrachtete die Falten, die sich auf Vanessas Stirn bildeten, als sie die Augen zusammenkniff und fügte schnell hinzu: „Es ist nichts Schlimmes. Ich habe mir nur abgewöhnt, im Internet meinen richtigen Namen zu verwenden.“
„Du meinst, du heißt nicht Sören?“
„Nein. Was meinst du? Kommst du damit zurecht?“
„Kommt auf deinen richtigen Namen an.“
„Ich meinte eigentlich damit, dass ich dich angelogen habe.“
„Schon vergessen. Solange du mir jetzt reinen Wein einschenkst. Also, wie heißt du wirklich?“
„Willst du raten?“
„So wie bei Rumpelstilzchen?“
„Soviel kann ich dir verraten. Rumpelstilzchen ist es nicht.“
„Dann sag schon. Wie heißt du?“
„Jonas.“
Die Kellnerin kam zurück und stellte die Cola übertrieben heftig vor Vanessa auf dem Tisch ab. Eiswürfel schlugen gegeneinander und etwas von der dunklen Flüssigkeit schwappte über den Rand des Glases. Auf der weißen Tischdecke bildete sich ein brauner Kringel.
Vanessa griff nach dem Glas, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und trank einen Schluck. Einige Sekunden lang betrachtete sie Jonas, ohne etwas zusagen.
Er spürte ihren Blick über sein Gesicht wandern. Über seine hellblauen Augen, die einen so krassen Kontrast zu seinen dunklen Haarstoppeln bildeten. Über seinen Dreitagebart, der zu so etwas wie einem Markenzeichen geworden war, über das schmale Kinn und über die für seinen Geschmack ein wenig zu markante Nase.
Schließlich brach sie das Schweigen.
„Doch nicht etwa der Jonas, oder?“
Er sah sie fragend an.
„Jonas Lundqvist. Der Fotograf.“
Jetzt lächelte er und griff in die schwarze Tasche, die neben seinem Stuhl auf dem Boden stand. Abgesehen von gewissen Accessoires für den bevorstehenden Abend, enthielt sie auch eine Nikon. Er zog die Kamera heraus und hielt ihren fragenden Blick auf seinem Speicherchip fest. Dann drehte er Vanessa das kleine Display zu.
Sie nahm ihm das Gerät aus der Hand und betrachtete das Foto. „Ich kann es nicht fassen“, sagte sie schließlich und gab ihm die Kamera zurück.
„Was ist los? So überrascht?“
„Ja. Das heißt, nein, ich… Es ist einfach so, dass ich Ihre Fotos schon seit Jahren bewundere.“
„Sind wir wieder beim Sie?“
„Nein, Entschuldigung. Ich bin nur völlig platt, dir gegenüber zu sitzen und ein Fotoshooting zu planen. Ich dachte immer, die Mädels auf deinen Bildern wären professionelle Models.“
„Das sind sie auch. Jedenfalls die meisten von ihnen.“
„Ich glaube, ich verstehe nicht.“
„Es sind keine bezahlten Profis, falls du das meinst. Aber sie machen ihr Ding absolut professionell. Jedenfalls die meisten von ihnen.“
„Und du glaubst, dass ich deinen Ansprüchen gerecht werde?“
„Absolut.“
Vanessa schaute etwas verlegen auf die allmählich schmelzenden Eiswürfel in ihrem Glas.
„Was ist los? Bist du nicht mehr interessiert?“
„Doch, sogar mehr denn je.“
„Und was beschäftigt dich? Du siehst aus, als hättest du Zweifel.“
„Ich frage mich einfach, ob ich gut genug bin, auf deinen Fotos zu modeln.“
„Davon bin ich absolut überzeugt.“
„Ist das dein Ernst?“
„Mein voller Ernst. Ehrenwort. Ich freue mich riesig auf das Shooting mit dir. Du sagst, du bist seit Jahren ein Fan meiner Bilder?“
Vanessa nickte.
„Was gefällt dir an ihnen? Was macht sie aus deiner Sicht so besonders?“
„Sie sind so…“ Sie suchte nach dem richtigen Wort. „Ausdrucksstark.“
„Danke für die Blumen.“
„Ehrlich. Ich kenne keinen, der so beeindruckende Fotos macht. Was ist dein Geheimnis? Oder darfst du es nicht verraten?“
„Kein Problem. Es ist auch kein wirkliches Geheimnis. Ich versuche einfach, die Gefühle in meinen Bildern möglichst stark herauszuarbeiten. Und das absolut kompromisslos.“
„Kompromisslos? Klingt ein bisschen wie rücksichtslos. Muss ich mir Sorgen machen?“
Er lächelte und trank einen Schluck Kaffee. „Es geht darum, die Dinge, die du zeigen möchtest, immer in der stärksten Form zu zeigen, die du zu liefern imstande bist. Wenn ein Foto Gewalt zeigen soll, dann zeig soviel Gewalt, wie du kannst. Wenn es Leidenschaft zeigen soll, dann zeig all die Leidenschaft, die du aus der Situation herausholen kannst. Das gleiche gilt für Schmerz, für Freude, für Sex. Eigentlich für alles, das du im Bild festhalten willst. Weißt du, was ich meine?“
„Klingt irgendwie logisch. Und so gar nicht nach einem Geheimrezept.“
„Sag ich doch.“
„Du investierst viel Zeit in die Vorbereitung deiner Shootings, oder?“
„Eigentlich nicht. Nur bei der Wahl der Location überlasse ich nichts dem Zufall. Alles andere muss dann einfach geschehen. Wenn das Model mitspielt, können sich die tollsten Geschichten daraus entwickeln. Manchmal entstehen geradezu magische Momente. Und das ist es, was meinen Bildern den Ausdruck verleiht, von dem du gesprochen hast.“
„Darf ich dich noch etwas fragen?“
„Nur zu. Frag was immer du wissen willst.“
„Du hast gesagt, du arbeitest nicht mit professionellen Models zusammen. Warum? Geht es ums Geld?“
„Nein, um Geld geht es schon lange nicht mehr. Wobei die Sache mit den Fotos ja eher ein Hobby von mir ist. Geld verdienst du vor allem mit den Videos und Werbespots.“
Vanessa nickte. „Davon habe ich gelesen. Wirklich beeindruckend. Aber noch mal zurück zu den Models. Warum machst du das? Ich meine, warum suchst du die Mädchen über das Internet und kontaktierst sie unter einem falschen Namen? Du könntest doch jede haben, wenn du von Anfang an sagen würdest, wer du bist.“
„Aber genau das möchte ich nicht. Ich möchte mit Mädchen arbeiten, die voll hinter dem stehen, was wir tun. Ich möchte, dass sie es der Bilder wegen und für das Thema an sich machen. Von mir aus auch für das kleine Taschengeld, das ich dafür zahle. Aber eben nicht wegen meines Namens oder weil sie hoffen, durch mich eines Tages vielleicht in einem hochdekorierten Hochglanzmagazin zu landen. Außerdem möchte ich nicht, dass bekannt wird, wie ich an die Mädchen komme. Es würde sich herumsprechen und die Masche würde irgendwann nicht mehr funktionieren. Sören wäre sozusagen arbeitslos.“