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Im Schatten aufgespannter Tücher schlenderten sie durch die engen Gassen. Einheimische Händler boten allerhand nützliche und weniger nützliche Waren an. Vor allem Touristenschickschnack. Kleidungsstücke, Handtaschen, Gürtel, Imitate berühmter Sportartikelhersteller, Gewürze, Tee, Schmuck. Es schien nichts zu geben, was das Urlauberherz begehrte, was es hier nicht zu kaufen gab. Und jeder Händler versicherte seinen Kunden, ihnen für die beste Ware weit und breit den günstigsten Preis weit und breit zu machen.

Sandy saugte den Duft der Gewürze und Lederwaren in sich auf. Sie genoss den Augenblick und fühlte sich so wohl und unbeschwert, wie schon lange nicht mehr. Am Abend würden sie sich im Hotel in das arabische Restaurant direkt am Strand setzen, gemütlich eine Shisha rauchen und den einen oder anderen Cocktail trinken.

Und danach, dachte Sandy, werden wir sehen, was die Nacht noch so für uns bereithält.

Wieder spürte sie dieses neuartige Kribbeln. Sie blickte sich nach Lena um, die an einem der Stände stehen geblieben war und nun mit schnellen Schritten auf sie zu eilte.

„Schau mal, ich habe etwas gekauft.“

„Gerade eben? So schnell? Hauptsache, du hast dich nicht übers Ohr hauen lassen. Hier musst du feilschen, was das Zeug hält.“

„Nein, das passt schon. Außerdem ist es ein Geschenk für dich, da wollte ich mit dem Typ auch nicht bis aufs Blut verhandeln.“ Sie überreichte Sandy eine kleine Tüte.

„Ein Geschenk? Für mich? Was ist es denn?“

„Schau nach. Ich hoffe, es gefällt dir.“

Sandy öffnete die Tüte und zog etwas heraus. Es war eine Art Amulett. Eine aus Holz geschnitzte Figur mit einer kleinen Öse. „Das ist doch dieser Käfer, oder?“

Lena nickte. „Ein Skarabäus. Exakt. Bei den Ägyptern gilt er als Glücksbringer. Er steht für Leben und Auferstehung. Er wird dich beschützen, wenn ich in den Staaten bin.“

„Vielleicht solltest du ihn dann besser selbst behalten? Glück wirst du dort ganz bestimmt gebrauchen können.“

„Gefällt er dir nicht?“

„Doch, ich finde ihn wirklich toll. Vielen Dank.“ Sandy betrachtete die Figur eine Weile und steckte sie dann in ihren Brustbeutel.

„Gerne.“ Lena sah sich unsicher um. Dann drückte sie Sandy flüchtig einen Kuss auf die Wange. „Dann lass uns weitergehen.“

„Einen Augenblick noch“, sagte Sandy. „Ich muss ganz kurz etwas nachsehen. Wartest du eben?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie zu einem der Stände, die sich ein paar Meter die Gasse hinauf befanden.

Als sie ihr Ziel erreicht hatte, explodierte die Welt um sie herum.

Der Knall war ohrenbetäubend und Sandy nahm die Geräusche der Umgebung plötzlich nur noch durch einen wattierten Schleier wahr. Es war beinahe so wie damals, in der Unterstufe, als sie im Winter nach dem Schwimmen Ohrenschmerzen bekommen hatte und eine Woche lang mit Watte in den Ohren herumgelaufen war.

Nur, dass die Welt um sie herum sich damals völlig normal weitergedreht hatte. Diese hier allerdings versank in völligem Chaos.

Menschen rannten wild durcheinander, dichter Rauch hing in der Luft und setzte sich beißend in Sandys Nase fest. Das Atmen fiel ihr schwer. Panisch und ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war, schaute sie sich um.

An der Stelle, an der sie Lena zurückgelassen hatte, herrschte heilloses Durcheinander. Einige der Marktstände standen in Flammen und überall auf dem Boden lagen menschliche Körper. Einheimische bemühten sich in dem ausgebrochenen Chaos verzweifelt um Hilfe, knieten neben Verletzten oder versuchten vergeblich, weitere Helfer herbeizuwinken. Doch die Mehrheit der Menschen, allen voran die Touristen, flohen panikartig in alle Himmelsrichtungen.

Lena. Wo war Lena?

„Lena! Wo bist du?“ Sie schrie aus Leibeskräften, doch ihre Stimme ging im allgemeinen Getöse unter.

Sie rannte los, mitten in das herrschende Chaos hinein, das beinahe apokalyptische Züge annahm. Menschen lagen am Boden und schrien, hielten sich blutende Wunden oder starrten mit schockgeweiteten Augen auf abgerissene und kreuz und quer herumliegende Gliedmaßen.

Überall war Blut.

Von einer Sekunde zur anderen war in dem beschaulichen Urlaubsort die Hölle losgebrochen.

„Lena? Mein Gott, Lena! Wo bist du?“ Tränen rannen in Strömen über ihr brennendes Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie selbst aus zahlreichen Schnittwunden blutete, spürte jedoch keinerlei Schmerz. Ihr Körper war vollgepumpt mit Adrenalin.

Sie entdeckte Lena wenige Meter von der Leiche des jungen Mannes entfernt, bei dem sie den Skarabäus gekauft hatte. Völlig aufgelöst kniete sie neben ihrer Freundin nieder. Lena zitterte so heftig, dass Sandy das Aufeinanderschlagen ihrer Zähne durch das herrschende Chaos hindurch und trotz ihrer tauben Ohren deutlich hören konnte. Überall war Blut.

Mit zusammengekniffenen Augen sah Lena zu ihrer Freundin auf und versuchte, eine Hand nach ihr auszustrecken, doch ihr Arm fiel kraftlos zu Boden.

Als Sandy bemerkte, dass Lenas Lippen tonlose Worte formten, beugte sie sich zu ihr hinunter.

„Alles wird gut. Glaub mir. Wir bekommen das wieder hin. Ganz bestimmt. Es kommt jeden Augenblick Hilfe.“ Und tatsächlich hörte Sandy in der Ferne das leise Heulen von Sirenen.

„Hör zu“, flüsterte Lena und ihre Stimme klang verzerrt und brüchig. „Ich werde sterben. Halt mich fest. Halt mich einfach fest, bis es vorbei ist.“

„Das darfst du nicht sagen, nicht einmal denken“, unterbrach Sandy ihre Freundin schluchzend. „Du musst durchhalten.“

„Sandy, ich kann nicht mehr. Es tut so schrecklich weh. Mein Bauch.“

Erst jetzt bemerkte Sandy das klaffende Loch im Bauch ihrer Freundin und ihr wurde übel, als sie erkannte, um was es sich bei den blutigen Schlangen handelte, die daraus hervorquollen. Sie legte Lenas Kopf in ihren Schoß und streichelte über ihr blutverklebtes Haar.

Noch einmal sammelte Lena all ihre Kraft und presste mühsam hervor: „Pass gut auf dich auf, meine Süße. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Und behalte den…“ Sie hustete und ein Schwall Blut quoll aus ihrem Mund. „Er… bringt Glück…“

Die Sirenen wurden lauter und schon konnte Sandy die rotierenden Lichter der Rettungswagen sehen.

Doch in dem Moment, als Lenas Augen nach oben rollten und starr in die grelle Sonne blickten, ohne zu blinzeln, wusste Sandy, dass es zu spät war.

Weinend brach sie zusammen.

KAPITEL 9

Die zahlreichen Narben der Schnitte an Armen und Beinen waren im Laufe der Jahre verheilt.

Die seelischen Narben waren es nicht.

Bis heute war sie nicht über den Tod ihrer besten Freundin hinweggekommen. Und dennoch war sie davon überzeugt, dass dieser Schicksalsschlag sie stark gemacht hatte. Stark genug jedenfalls, um jede Krise zu meistern, die das Leben seither für sie bereitgehalten hatte.

Und genauso würde es auch dieses Mal sein.

Sie würde sich nicht unterkriegen lassen.

Nicht von diesem kranken Arschloch, das sie betäubt und in einen Sarg gesperrt hatte.

Aber was genau war eigentlich passiert?

Sie erinnerte sich, diesen Typ, Kid, an der Bar kennen gelernt zu haben. Sie hatten sich nett unterhalten und irgendwann hatte er vorgeschlagen, in ein ruhigeres Lokal zu wechseln. In seinem Auto hatten sie sich unterhalten.

Über seine Freundin.

Und er hatte gesagt, er habe sie getötet.

Und noch während Sandy es für einen makabren Scherz hielt, hatte sie jemand von hinten überwältigt und betäubt.

Jemand.

Es war nicht Kid gewesen. Der hatte am Steuer gesessen und sie hatte ihn die ganze Zeit über angesehen.

Folglich befand sich noch eine weitere Person im Fahrzeug.

Ob Kid ebenso überrascht worden war?