»Ja, gewiß, gehe nur zu ihm hin, erkläre ihm alles … Du brauchst sogar die Tränen nicht! Wozu auch? Wassja, du hast mich wirklich mit deiner Angst angesteckt.«
»Ja, ich werde hingehen, ich werde hingehen. Und jetzt laß mich weiterschreiben, Arkascha. Ich tue ja keinem Menschen etwas, laß mich schreiben!«
Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassja nicht, er traute ihm gar nicht. Wassja war zu allem fähig. Doch um Entschuldigung bitten? – warum, wozu? Es handelte sich doch um etwas ganz anderes. Es handelte sich doch darum, daß Wassja einer übernommenen Pflicht nicht nachgekommen war, daß er sich vor sich selbst schuldig fühlte; daß er dem Schicksal gegenüber undankbar zu sein glaubte, daß er von seinem Glück erschüttert und erdrückt war und sich dieses Glücks für unwürdig hielt; und schließlich daß das Ganze für ihn nur ein Vorwand war, während er in Wirklichkeit nach all dem Unerwarteten, das er gestern erlebt hatte, noch nicht recht zur Besinnung gekommen war. Das ist es! sagte sich Arkadij Iwanowitsch. Man muß ihn retten. Man muß ihn mit sich selbst versöhnen. Denn er selbst hat sich beinahe aufgegeben. Er dachte noch lange nach und entschloß sich endlich, sogleich zu Julian Mastakowitsch zu gehen, vielleicht schon morgen, und ihm alles zu erzählen.
Wassja saß und schrieb. Arkadij Iwanowitsch, der sehr müde war, legte sich etwas hin, mit der Absicht, noch etwas über die Sache nachzudenken. Er schlief ein und erwachte erst gegen morgen.
»Teufel! Schon wieder!« schrie er auf. Er sah nach Wassja: dieser saß und schrieb noch immer.
Arkadij stürzte zu ihm hin, nahm ihn in seine Arme und legte ihn mit Gewalt ins Bett. Wassja lächelte; die Augen fielen ihm vor Mattigkeit zu. Er konnte kaum sprechen.
»Ich wollte mich schon selbst hinlegen,« sagte er. »Weißt du, Arkascha, was mir einfällt? Ich werde doch noch fertig werden! Ich habe das Tempo beschleunigt! Noch länger aufbleiben kann ich nicht. Wecke mich, bitte, um acht.«
Er kam nicht weiter und schlief sofort ein.
»Mawra!« sagte Arkadij Iwanowitsch ganz leise zu Mawra, die eben den Tee hereinbrachte. »Er will um acht Uhr geweckt werden. Das darf um keinen Preis geschehen! Er soll meinetwegen zehn Stunden schlafen, verstehst du?«
»Ich verstehe, Väterchen, ich verstehe, Herr!«
»Mittagessen brauchst du nicht zu kochen; du sollst dich nicht mit dem Brennholz zu schaffen machen und überhaupt nicht lärmen, – sonst wehe dir! Wenn er nach mir fragt, so sagst du ihm, ich sei in die Kanzlei gegangen. Verstehst du?«
»Ich verstehe, Väterchen. Soll er nur schlafen, soviel er mag, – was gehts mich auch an? Ich freue mich, wenn die Herren gut schlafen, und passe auf alles auf, was den Herren gehört. Und was die zerschlagene Tasse betrifft, wegen der mir die Herren neulich Vorwürfe machten, so war das nicht ich, das war die Katze … Ich hatte auf sie nicht acht gegeben; mach daß du fortkommst, hab ich ihr gesagt, du Mistvieh …«
»Pssst! Schweig, schweig!«
Arkadij Iwanowitsch geleitete Mawra in die Küche, ließ sich den Schlüssel geben und schloß sie ein. Dann ging er in die Kanzlei. Unterwegs überlegte er sich, wie er vor Julian Mastakowitsch erscheinen sollte, und ob es auch nicht unverschämt von ihm wäre? Als er in die Kanzlei kam, fühlte er sich ziemlich unsicher; er erkundigte sich schüchtern, ob Exzellenz schon anwesend sei. Man sagte ihm, Exzellenz sei nicht da und werde heute überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch wollte im ersten Augenblick sofort zu ihm in seine Wohnung gehen; doch er sagte sich gleich, daß Julian Mastakowitsch, wenn er zu Hause geblieben sei, offenbar zu Hause zu tun haben müsse … Er blieb also in der Kanzlei. Die Stunden erschienen ihm wie Ewigkeiten. Er versuchte, unter der Hand etwas von der Arbeit zu erfahren, mit der Julian Mastakowitsch Wassja betraut hatte. Niemand konnte ihm aber darüber etwas sagen. Man wußte nur, daß Julian Mastakowitsch Wassja mit besondern Aufträgen zu betrauen pflegte, doch was es für Aufträge waren, das wußte niemand. Endlich schlug es drei, und Arkadij Iwanowitsch eilte nach Hause. Wie er das Amt verlassen wollte, hielt ihn ein Schreiber an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkow so gegen ein Uhr dagewesen sei und sich erkundigt hätte, »ob Sie da seien, und ob Julian Mastakowitsch dagewesen wäre.« Als Arkadij Iwanowitsch das hörte, nahm er eine Droschke und fuhr, ganz außer sich vor Angst, nach Hause.
Schumkow war zu Hause. Er ging in großer Aufregung auf und ab. Als er Arkadij Iwanowitsch erblickte, kam er gleichsam zur Besinnung und gab sich sichtbare Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Er setzte sich stumm an den Schreibtisch. Er schien den Fragen seines Freundes ausweichen zu wollen, sie direkt zu fürchten. Er hatte wohl selbst irgendeinen Entschluß gefaßt und zugleich beschlossen, ihn auch vor Arkadij Iwanowitsch geheim zu halten, »da er sich auch auf die Freundschaft nicht mehr verlassen konnte.« Das wirkte auf Arkadij beinahe niederschmetternd, und sein Herz krampfte sich vor schwerem, bohrendem Schmerz zusammen. Er setzte sich auf das Bett, nahm irgendein Buch in die Hand, übrigens das einzige, das er besaß, wandte aber keinen Blick von dem armen Wassja. Dieser schwieg hartnäckig und schrieb, ohne vom Papier aufzublicken. So vergingen einige Stunden, und Arkadijs Seelenqualen steigerten sich auf das höchste. Endlich, gegen elf Uhr, hob Wassja den Kopf und sah Arkadij mit stumpfem, starrem Blicke an. Arkadij wartete. So vergingen einige Minuten. Wassja schwieg. – »Wassja!« rief Arkadij. Wassja gab keine Antwort. – »Wassja!« rief er noch einmal und sprang vom Bette. »Wassja, was ist mit dir? Was hast du?« schrie er auf und lief zu ihm zu. Wassja hob den Kopf und richtete auf ihn wieder den gleichen stumpfen und starren Blick. »Er hat den Starrkrampf!« sagte sich Arkadij, von Grauen gepackt. Er nahm die Wasserkaraffe, hob Wassja etwas vom Stuhle, goß ihm Wasser über den Kopf, benetzte seine Schläfen und rieb seine Hände in den seinigen; und Wassja kam zu sich. – »Wassja! Wassja!« schrie Arkadij. Tränen stürzten aus seinen Augen: er konnte sich nicht mehr beherrschen. »Wassja, richte dich nicht zugrunde! Denke doch nur an …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er hielt Wassja fest in seinen Armen. Wassjas Gesicht drückte einen schweren inneren Kampf aus; er rieb sich die Stirne, griff sich an den Kopf, als fürchtete er, daß er ihm zerspringen würde.
»Ich weiß nicht, was mit mir ist!« sagte er schließlich. »Ich glaube, ich habe mich überarbeitet. Gut, gut … Höre auf, Arkadij, jammere nicht, höre auf!« wiederholte er immer wieder, ihn mit traurigen, müden Augen anblickend. »Was beunruhigst du dich? Höre doch auf!«
»Jetzt willst du mich gar trösten!« rief Arkadij aus, dessen Herz zerriß. – »Wassja,« sagte er schließlich, »lege dich hin, versuche etwas einzuschlafen, ja? Quäle dich nicht umsonst! Es ist besser, wenn du dich später wieder an die Arbeit machst!«
»Ja, ja!« sagte Wassja, »Gut! Ich lege mich hin … Ja, gut … Siehst du: ich wollte die Arbeit beenden, jetzt habe ich es mir anders überlegt, ja …«
Und Arkadij schleppte ihn zu Bett.
»Höre, Wassja,« sagte er energisch, »mit der Sache muß man doch endlich ein Ende machen! Sage mir, was du beschlossen hast.«
»Ach!« erwiderte Wassja. Er winkte schwach mit der Hand und wandte den Kopf auf die andere Seite.
»Mut, Wassja! Entschließe dich! Ich will nicht dein Henker sein, ich kann nicht länger schweigen. Du wirst doch nicht einschlafen, ehe du einen Entschluß gefaßt hast, das weiß ich!«
»Wie du willst! Wie du willst!« wiederholte rätselhaft Wassja.
– Er wird schon nachgeben! – sagte sich Arkadij Iwanowitsch.
»Folge mir, Wassja,« sagte er. »Denke daran, was ich dir gesagt habe: morgen werde ich dich retten, morgen wird sich dein Schicksal entscheiden! Was sage ich – Schicksal! Du hast mir solche Angst gemacht, Wassja, daß ich nun auch mit deinen Worten spreche. Schicksal ist Unsinn! Du willst dir die Gewogenheit und meinetwegen auch die Liebe Julian Mastakowitschs erhalten, nicht wahr?! Du wirst sie dir auch erhalten, du wirst sehen … Ich …«