Arkadij Iwanowitsch könnte noch lange sprechen, doch Wassja unterbrach ihn. Er setzte sich im Bette etwas auf, umschlang stumm mit beiden Händen Arkadijs Hals und küßte ihn.
»Genug!« sagte er mit schwacher Stimme. »Genug! Genug davon!«
Und er kehrte seinen Kopf wieder zur Wand.
– Mein Gott! – sagte sich Arkadij – Was hat er nur? Er ist ja ganz von Sinnen. Was mag er beschlossen haben? Er wird sich ja zugrunde richten! –
Arkadij sah ihn ganz verzweifelt an.
– Wenn er doch ernsthaft erkranken würde, – dachte sich Arkadij – so wäre das vielleicht besser. Die Krankheit würde alle Sorgen verdrängen, und dann könnte man die ganze Angelegenheit sehr gut ordnen. Doch was für einen Unsinn rede ich? Ach, mein Gott …
Wassja schien inzwischen eingeschlummert zu sein. Arkadij Iwanowitsch freute sich darüber. – Ein gutes Zeichen! – sagte er sich. Er nahm sich vor, die ganze Nacht bei Wassjas Bette zu wachen. Wassja war aber sehr unruhig. Jeden Augenblick zuckte er zusammen, warf sich im Bette hin und her und schlug immer wieder die Augen auf. Die Müdigkeit nahm schließlich doch überhand, und er schlief scheinbar fest ein. Es war gegen zwei Uhr morgens. Arkadij Iwanowitsch nickte auf seinem Stuhle ein, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt.
Sein Schlaf war unruhig, und er hatte einen sonderbaren Traum. Ihm war es, als ob er nicht schliefe, während Wassja noch immer auf dem Bette läge. Doch seltsam! Es schien ihm, daß Wassja sich nur schlafend stellte, daß er ihn hinterginge und mit halbgeöffneten Augen belauerte, und sich schließlich zum Schreibtisch schliche. Ein brennender Schmerz durchzuckte Arkadij Iwanowitsch; es ärgerte ihn und war für ihn unerträglich, daß Wassja ihm mißtraute und sich vor ihm in acht nahm. Er wollte ihn packen, er wollte ihn anschreien und aufs Bett zurückschleppen … Wassja schrie aber in seinen Armen laut auf, und Arkadij trug nur seine leblose Leiche aufs Bett. Kalter Schweiß trat ihm in die Stirne, und sein Herz klopfte entsetzlich. Er schlug die Augen auf und erwachte. Wassja saß nun wirklich vor dem Tische und schrieb.
Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und sah auf das Bett: Wassja war nicht im Bett! Arkadij, der noch ganz im Banne seines Traumes war, sprang entsetzt auf. Wassja rührte sich nicht. Er schrieb weiter. Nun merkte Arkadij voller Entsetzen, daß Wassja mit trockener Feder über das Papier fuhr, unbeschriebene weiße Seiten umblätterte und sie in größter Hast mit unsichtbaren Zeilen füllte, so geschäftig, als ob seine Arbeit aufs beste vorwärts ginge!
– Nein, das ist kein Starrkrampf! – sagte sich Arkadij Iwanowitsch und erzitterte an allen Gliedern. »Wassja, Wassja! Antworte mir doch!« schrie er auf, ihn an der Schulter packend. Aber Wassja schwieg und schrieb mit der trockenen Feder weiter.
»Endlich habe ich das Tempo beschleunigt!« sagte er, ohne Arkadij anzublicken.
Arkadij packte seine Hände und entriß ihm die Feder.
Ein Stöhnen drang aus Wassjas Brust. Er ließ die Rechte sinken und blickte Arkadij an; dann fuhr er sich mit gequältem Ausdruck über die Stirne, als wollte er sich einer schweren, bleienen Last entledigen, die sein ganzes Wesen bedrückte; schließlich ließ er seinen Kopf leise, gleichsam nachdenklich auf die Brust fallen.
»Wassja! Wassja!« schrie Arkadij Iwanowitsch verzweifelnd, »Wassja!«
Nach einer Minute sah ihn Wassja wieder an. Seine großen, blauen Augen schwammen in Tränen, und sein blasses, sanftes Gesicht drückte unerträgliche Qual aus … Er flüsterte etwas vor sich hin.
»Was? Was?« rief Arkadij, sich über ihn beugend.
»Womit … Womit hab ich es verdient?« flüsterte Wassja, »Wofür? Was habe ich getan?«
»Wassja! Was hast du? Was fürchtest du? Was?« schrie Arkadij verzweifelnd und sich die Hände ringend.
»Warum muß ich unter die Soldaten gesteckt werden?« fragte Wassja und blickte seinem Freunde gerade in die Augen. »Wofür? Was habe ich getan?«
Arkadij standen die Haare zu Berge; er traute seinen Sinnen nicht. Er stand vor seinem Freunde ganz vernichtet.
Im nächsten Augenblick kam er zur Besinnung. – Das ist nichts, das geht bald vorüber! – sagte er sich, noch immer bleich, mit blauen, zitternden Lippen. Er begann sich, hastig anzukleiden, um nach einem Arzt zu laufen. Plötzlich rief ihn Wassja beim Namen. Arkadij stürzte zu ihm hin und umarmte ihn, wie eine Mutter, der man ihr Kind entreißen will …
»Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du? Es ist mein Unglück, und ich will es allein tragen …« »Was sagst du? Was sagst du? Wassja, besinne dich doch!«
Wassja seufzte tief auf, und Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Warum soll man sie umbringen? Was hat denn sie verbrochen?« keuchte Wassja herzzerreißend. »Es ist meine Sünde, meine Sünde!«
Er schwieg eine Weile.
»Lebe wohl, Geliebte! Lebe wohl, mein Schatz!« flüsterte er, und bewegte seinen armen Kopf hin und her … Arkadij fuhr auf, nahm sich zusammen und wollte wieder zum Arzt … »Gehen wir! Es ist Zeit!« schrie Wassja auf, der diese Bewegung Arkadijs mißverstand. »Gehen wir, Freund, gehen wir, ich bin bereit … Begleite mich!« Er verstummte und warf Arkadij einen fast leblosen, tief unglücklichen und mißtrauischen Blick zu.
»Wassja! Um Gottes willen! Bleibe hier! Erwarte mich hier, ich komme bald zurück! Ich komme sofort zu dir zurück,« sagte Arkadij, der selbst den Kopf verloren hatte. Er griff nach seiner Mütze, um zum Arzt zu laufen. Wassja setzte sich plötzlich auf. Er schien still und folgsam, doch in seinen Augen brannte eine verzweifelte Entschlossenheit. Arkadij kehrte noch einmal um, nahm vom Tisch ein offenes Federmesser weg, warf noch einen Blick auf den Ärmsten und lief hinaus.
Es war nach sieben Uhr morgens. Das Tageslicht hatte bereits die Dämmerung im Zimmer verscheucht.
Arkadij konnte keinen Arzt finden. Er lief schon eine ganze Stunde herum. Er befragte jeden Hausknecht, der vor einem Haustore stand, ob in dem Hause nicht ein Arzt wohne. Doch alle Ärzte, deren Adressen er auf diese Weise erfuhr, waren schon ausgefahren: entweder, um ihre Kranken zu besuchen, oder in privaten Angelegenheiten. Endlich fand er einen, der gerade Sprechstunde hatte. Dieser fragte seinen Diener, der ihm den Beamten Nefedewitsch meldete, lange und umständlich aus: von wem er geschickt sei, und wer der Herr sei, und was er wolle und sogar wie er aussehe, – und sagte schließlich, daß er unmöglich hinfahren könne, weil er ohnehin viel zu tun habe, und daß man einen Kranken dieser Art in ein Spital bringen müsse.
Arkadij, der einen solchen Mißerfolg nicht erwartet hatte und ganz verzweifelt und erschüttert war, gab alles auf, verzichtete auf alle Ärzte, die es nur in der Welt gab, und begab sich eilig nach Hause, in höchster Angst um Wassja. Er rannte die Treppe hinauf und kam in die Wohnung. Mawra kehrte den Fußboden, als ob nichts geschehen wäre, und spaltete Holz, um den Ofen einzuheizen. Er stürzte ins Zimmer: Wassja war fort.
– Wohin? Wohin mag er weggelaufen sein, der Unglückliche? – fragte sich Arkadij, vor Schreck erstarrend. Er begann Mawra auszufragen. Diese wußte von nichts und hatte nicht einmal gehört, wie Wassja weggegangen war. – »Gott sei ihm gnädig!« Nefedewitsch lief nach der Kolomna-Vorstadt.
Es fiel ihm, Gott weiß warum, ein, daß Wassja dort sein müsse.
Es war schon gegen zehn Uhr, als er zu den Artemjews kam. Man hatte ihn nicht erwartet und wußte von nichts. Er stand vor ihnen erschrocken und erschüttert und fragte: Wo ist Wassja? Die alte Mutter fiel vor Entsetzen auf das Sofa hin. Lisa, die am ganzen Leibe zitterte, begann ihn auszufragen, was eigentlich geschehen sei. Was konnte er ihr sagen? Arkadij Iwanowitsch fertigte sie so schnell als möglich ab, indem er irgendeine Fabel auftischte, an die natürlich niemand glaubte; er lief fort und ließ beide Frauen erschüttert und außer sich vor Angst zurück. Er eilte in seine Kanzlei, um den Beginn der Amtsstunden nicht zu versäumen und den Vorfall mit Wassja zu melden, damit man unverzüglich Maßregeln ergreife. Unterwegs fiel ihm aber ein, daß Wassja bei Julian Mastakowitsch sein könne. Das war wohl das Wahrscheinlichste! Arkadij hatte noch vor seinem Besuch bei den Artemjews an diese Möglichkeit gedacht. Als er am Hause seiner Exzellenz vorbeifuhr, wollte er die Droschke anhalten lassen, überlegte sich aber die Sache, und befahl dem Kutscher, weiterzufahren. Er beschloß, sich vorher in der Kanzlei zu erkundigen, ob dort irgend etwas Besonderes vorgefallen sei, und dann erst zu Julian Mastakowitsch zu gehen, um über Wassja Bericht zu erstatten. Jemand mußte doch den Bericht erstatten!