Eine Stunde verging, und ich war immer noch wach. Meine Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Ich wusste, wenn Pa und Ma hier gewesen wären, hätten sie nicht lange überlegt, sondern Joe eins über den Kopf gezogen und das Schwarze Buch der Geheimnisse geklaut. Die Flasche auf dem Kaminsims wäre ohnehin längst geleert.
Dasselbe hätten sie von mir erwartet. Zu lügen, zu stehlen und zu betrügen war mir sozusagen in die Wiege gelegt. Aber hier in Pagus Parvus bei Joe schienen diese Eigenschaften fehl am Platz.
Ich litt unter quälender Unentschlossenheit. Mein Gewissen wollte mich zurückhalten, aber ich schäme mich zu gestehen, dass ich meiner Natur schließlich doch nachgab – trotz Joes Freundlichkeit mir gegenüber und seines Hinweises vorhin. Wie konnte man von mir erwarten, dass ich jetzt nicht das tat, was mein Leben lang selbstverständlich für mich gewesen war?
Vorsichtig zog ich das Buch unter Joes Matratze hervor und klemmte es mir unter den Arm. Ich wickelte mich fester in den Umhang und ging auf Zehenspitzen durch den Laden. Der Frosch beobachtete mich vorwurfsvoll, ich konnte Joes tiefes, lautes Atmen hören. Es überraschte mich, dass die Tür zur Straße nicht abgesperrt war. Ich öffnete sie und trat hinaus. Alles war so einfach gegangen. Kein Dielenbrett hatte geknarrt, keine Türangel gequietscht. Es schneite leicht, und die Lichter in den Fenstern warfen einen Schimmer auf die Straße. Wie in der vergangenen Nacht schienen die meisten der Einwohner von Pagus Parvus auch diesmal noch wach. Wenn ich jetzt fortginge, einfach die Straße hinunter, könnte ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Plötzlich spürte ich die Uhren in meiner Hosentasche und hielt inne. Ich lachte lautlos über meine eigene Dummheit. Was dachte ich mir eigentlich? Es war mitten in der Nacht, mitten im Winter. Hinter mir lagen ein warmes Bett, Essen und jemand, der sich anscheinend etwas aus mir machte; vor mir lagen nichts als Schnee und bittere Kälte.
Schnell ging ich wieder hinein und legte die Uhren ins Fenster zurück. Mit zitternden Händen schob ich das Schwarze Buch unter die Matratze, in der Hoffnung, Joe möge nicht aufwachen. Dann schlich ich zu meinem Platz neben dem Kamin, rollte mich neben den orangerot glühenden Kohlen zusammen und ging mit mir selber ins Gericht.
Kaum zu glauben, dass ich noch vor einem Tag in der schmutzigen Stadt gewesen war, ein unsicheres Dasein als gewöhnlicher Dieb geführt hatte und von den eigenen Eltern grausam verraten worden war. Und doch war ich jetzt hier und verdiente auf ehrliche Weise mein Geld – mit einer Arbeit, die geheimnisvoller und aufregender war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ludlow, sagte ich zu mir, du bist ein Trottel.
Ich sah zu Joe hinüber, der fest schlief, und da wusste ich: Was auch geschehen mochte, morgen und am übernächsten Tag und am Tag darauf, in die Stadt wollte ich nie wieder zurück. Mit meiner Vergangenheit musste ich wohl oder übel leben, aber hier bei Joe hatte ich eine Zukunft.
Kapitel 14
Von Fröschen und Beinen
Am nächsten Morgen erwachte Ludlow vom Duft warmen Brotes. Joe stand vor dem Kamin und war dabei, die Endstücke eines Brotlaibs zu rösten, die er auf den Schürhaken gespießt hatte.
»Genau zur rechten Zeit«, sagte er, als Ludlow aus seiner Ecke kam. »Hast du gut geschlafen? Also, ich war ein bisschen durcheinander.«
»Gut, ganz gut«, nuschelte Ludlow gähnend.
Joe ließ das geröstete Brot auf einen Teller gleiten und setzte sich an den Tisch. »Ich habe gestern Nacht vergessen, die Tür abzuschließen. Wir hätten sozusagen im Schlaf ermordet werden können.«
Ludlows Wangen wurden so heiß wie das Röstbrot.
Unbeirrt fuhr Joe fort: »Nun, du hast jetzt Zeit zum Nachdenken gehabt. Willst du bleiben? Die Arbeit ist nicht schwer. Du wärst mir eine große Hilfe.«
»Ich würde gern bleiben«, sagte Ludlow. »Sehr gern.«
»Dann also abgemacht. Und nun wollen wir frühstücken.«
In der Stadt hätte Ludlows Frühstück aus einem verschimmelten Stück Brot oder zähem Haferbrei bestanden. In Pagus Parvus, im Hinterzimmer des Geheimnis-Pfandleihers, war es ein wahres Festmahl. Der Tisch war überreichlich gedeckt mit geröstetem Brot, gekochten Hühnereiern, dicken Scheiben rosa Schinken, goldgelber Butter und zwei Krügen, der eine mit Bier, der andere mit frischer Milch. Sogar Besteck gab es, doch davon ließ sich Ludlow nicht bremsen: Er aß, als wäre es die letzte Mahlzeit seines Lebens. Joe sah ihm zu und staunte über den Appetit des Jungen, als Ludlow einen zweiten Becher Milch hinunterstürzte und dann die Fleischpastete in der Mitte des Tisches ins Visier nahm.
»Die hat der Fleischer heute Morgen vorbeigebracht«, sagte Joe. »Und der Bäcker das Brot. Was für eine Gastfreundschaft.«
»Vielleicht wollen die Leute nur, dass Ihr mehr von ihrem alten Plunder kauft«, murmelte Ludlow.
Joe biss von seinem Brot ab und spülte mit einem Schluck Bier nach. Mit einer Serviette, die auf seinen Knien lag, tupfte er sich das Kinn ab. Solch vornehme Umgangsformen hatte Ludlow noch nie erlebt, und er wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über den Mund. Danach wartete er ausnahmsweise, bis er hinuntergeschluckt hatte, bevor er sprach.
»Obadiah tut mir eigentlich leid«, sagte er. »Ich glaube, er ist ein anständiger Mann.«
»Anständig zu sein ist nicht immer genug«, sagte Joe.
»Ihr habt sicher schon viele Geschichten dieser Art gehört?«
Joe nickte. »Auch viele, die noch schlimmer waren. Aber das ist wohl kaum ein Trost für den armen Kerl. Wenn man ihn erwischt, wird er mit Sicherheit ins Gefängnis gesteckt oder am nächsten Baum aufgeknüpft.«
»Und Jeremiah? Was ist mit ihm?«
Joe zog die Stirn in Falten. »Er würde alles abstreiten. Was gibt es schließlich schon für einen Beweis, dass Jeremiah hinter der Sache steckt? Hier steht das Wort eines Armen gegen das Wort eines Reichen. Das Urteil wäre so gut wie gesprochen. Ich fürchte, Jeremiah hat das ganze Dorf so fest in seiner Gewalt, dass es niemand hier wagen würde, ihn anzuklagen, geschweige denn ihn zu verurteilen.«
»Meint Ihr, dass Obadiah das Geld reicht?«
»Für den Moment schon«, sagte Joe. »Er wird zumindest seine Miete zahlen können. Aber ich frage mich, was Jeremiah sonst noch auf Lager hat.«
»Vielleicht können wir Obadiah noch irgendwie anders helfen«, sagte Ludlow.
Joe schüttelte den Kopf. »Nein, nein. In den Lauf der Dinge darf ich nicht eingreifen. Unsere Aufgabe ist es, Geheimnisse zu hüten. Steht ein Geheimnis erst mal im Buch, ist die Angelegenheit abgeschlossen. Genau genommen sollten wir auch jetzt nicht darüber sprechen.«
»Es gibt also gar nichts, was wir tun könnten?«
Joe schwieg.
Das Geschäft ging den ganzen Tag stoßweise, und bei Ladenschluss gab es in Joes Schaufenster zusätzlich eine Blumenvase in griechischem Stil, lederne Hosenträger mit Silberschnallen (eine davon fehlte), ein Paar robuste abgewetzte Stiefel (mit nur unwesentlich schief getretenen Absätzen) und eine Reihe Zierknöpfe aus Messing. Der Nachttopf stand in der Ecke neben dem Holzbein. Am späten Nachmittag war Ludlow gerade dabei, die Knöpfe im Schaufenster neu anzuordnen, da merkte er, dass er Zuschauer hatte. Drei Jungen standen draußen – dieselben drei, die gestern in der Menge standen, als Joe sich vorgestellt hatte. Ihre Körpergröße nahm von rechts nach links ab. Sie drückten ihre Gesichter gegen das Fenster, waren aber anscheinend zu schüchtern, um hereinzukommen. Joe ging zur Tür.