Ich heiße Ludlow Fitch. Wie zahllose andere Menschen hatte ich das große Pech, in der Stadt geboren zu sein – einer stinkenden Stadt, nicht wert, dass man ihren Namen nennt. Und wenn Ma und Pa nicht gewesen wären, wäre ich dort auch gestorben. Sie waren meine Rettung, obwohl das ganz und gar nicht in ihrer Absicht lag, als sie mich, ihren einzigen Sohn, an Barton Gumbroot auslieferten. Vielleicht war aber gerade dieser Verrat der größte Glücksfall in meinem Leben, denn der teuflische Plan meiner Eltern bedeutete für mich das Ende des einen und den Beginn eines anderen Daseins: meines Lebens mit Joe Zabbidou.
Kapitel 2
Fragment aus den Erinnerungen des Ludlow Fitch.
Ich hatte mich an die Kutsche eines gewissen Mr Jeremiah Ratchet gehängt, der sogar persönlich darin saß, aber das wusste ich damals noch nicht. Stundenlang rumpelten wir dahin, er im Innern der Kutsche schnarchend wie ein Blasebalg, so laut, dass ich es über das Rattern der Räder hören konnte, und ich, der ich mich von außen festklammerte wie das Äffchen eines Drehorgelmannes. Das Wetter wurde schlechter und es begann zu schneien. Die Straße verengte sich und die Schlaglöcher wurden immer größer, tiefer und häufiger. Der Kutscher machte sich keine Gedanken um die Bequemlichkeit seiner Reisegäste. Wären nicht meine Hände so gut wie festgefroren gewesen, hätte ich leicht herunterfallen können. Trotz dieser misslichen Lage und obwohl mein Magen rebellierte (ich leide schwer an Reisekrankheit), war ich gegen Ende der Fahrt eingedöst. Die Kutsche fuhr einen steilen Berg hinauf, und endlich erreichten wir den Ort, der für die nächste Zeit mein Zuhause werden sollte: das Bergdorf Pagus Parvus.
Unter anderen Umständen hätte ich nie beschlossen, nach Pagus Parvus zu kommen, aber es lag ja von Anfang an nicht in meiner Hand, mein Reiseziel zu bestimmen. Die Kutsche hielt vor einem großen Haus und der Fahrer stieg vom Bock. Ich hörte ihn an den Kutschenschlag klopfen.
»Mr Ratchet«, rief er. »Mr Ratchet!«
Da er keine Antwort bekam, ging er zum Haus und klingelte nach dem Dienstmädchen. Ein junges Mädchen kam heraus, sie schien nicht sehr erfreut. Der Kutscher nannte sie Polly. Gemeinsam schleppten sie Ratchet die Eingangstreppe hinauf – begleitet von lautem Schnarchen (Ratchets) und schwerem Stöhnen (Pollys und des Kutschers) – und beförderten ihn ins Haus. Diese Gelegenheit ergriff ich, um abzuspringen und einen raschen Blick ins Innere der Kutsche zu werfen. Ich fand einen ledernen Geldbeutel, ein gesäumtes bedrucktes Seidentuch und ein Paar Handschuhe. Ich schlang mir das Tuch um den Hals und streifte die Handschuhe über meine vor Kälte starr gewordenen Finger. Der Lederbeutel enthielt nur ein paar Pennys, aber es war immerhin ein Anfang. Als ich aus der Kutsche stieg, sah ich das junge Mädchen in der Tür stehen. Ein vorsichtiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und einen Augenblick sah sie mir direkt in die Augen. Dann hörte ich den Kutscher zurückkommen – höchste Zeit für mich zu verschwinden. Nun hätte ich mich in die eine oder in die andere Richtung wenden können, den Hang hinauf oder hinunter. Ich weiß selber nicht warum, aber ich ging bergauf.
Es war ein mühsames Vorankommen. Während ich weiter hinaufstieg, hörte ich die Kirchenglocke vier Uhr schlagen. Es schneite zwar nicht mehr, aber der Wind war schneidend wie ein Messer. Ich brauchte einen Unterschlupf. Trotz der nächtlichen Stunde und obwohl es keine Straßenlampen gab, konnte ich ganz gut sehen, wo ich ging. Es war aber nicht der Mond, der meinen Weg erhellte – der verbreitete nur einen schwachen Schimmer –, sondern die Lampen, die hinter den Fenstern leuchteten. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der in diesem Dorf noch wach war.
Vor einem leeren Gebäude am oberen Ortsende blieb ich stehen. Es lag allein im Schatten der Kirche und wirkte verlassen. Ein Gässchen trennte es von den anderen Häusern und Läden. Gerade wollte ich nach einer Möglichkeit suchen, hineinzukommen, als ich Schritte im Schnee hörte. Ich duckte mich in das Seitengässchen und wartete. Ein Mann kam den Berg herunter, vornübergebeugt und vorsichtig. Er hatte eine große Holzschaufel über der Schulter und murmelte vor sich hin. Er kam direkt an mir vorüber, sah aber weder nach links noch nach rechts und ging die Dorfstraße hinunter.
Kaum war er in der Nacht verschwunden, erschien eine zweite Gestalt. Bis zum heutigen Tag ist mir der Augenblick im Gedächtnis: Wie durch Zauber tauchte plötzlich dieser Mann aus dem Dunkel auf. Ich sah, wie er entschlossen die Straße heraufkam, auf mich zu. Er ging mit weit ausgreifenden Schritten und näherte sich schnell. Trotzdem hinkte er, drückte den rechten Fuß tiefer in den Schnee als den linken.
Ich glaube, ich war der erste Mensch im Dorf, der Joe Zabbidou zu sehen bekam, und wie ich heute weiß, war ich auch der letzte. Ob es nur Zufall war, dass wir gleichzeitig hier oben ankamen? Ich denke, da waren andere Mächte am Werk. Im Gegensatz zu mir war er nicht auf der Flucht. Und er hatte ein Ziel, das er still und heimlich verfolgte.
Kapitel 3
Ankunft
Es war nicht einfach, Joe Zabbidou genau zu beschreiben. Sein Alter ließ sich unmöglich bestimmen. Er war weder dick noch dünn, eher von schmaler Gestalt. Und er war groß, was sich in Pagus Parvus als eindeutiger Nachteil erwies: Da der Ort aus einer Zeit stammte, als die Menschen noch um die zwölf Zentimeter kleiner waren, hatte man die Häuser entsprechend niedrig gebaut. Genau genommen war der Ort während der Jahre der »Großen Holzknappheit« entstanden. Der damalige König hatte einen Erlass herausgegeben, dass nach Kräften Holz gespart werden müsse – mit der Folge, dass Türen und Fenster kleiner und schmaler ausfielen und die Decken besonders niedrig.
Joe war dem Wetter entsprechend gekleidet, allerdings nicht in einen Mantel mit hohem Kragen, wie es zur damaligen Zeit Mode war. Stattdessen trug er einen von silbernen Spangen zusammengehaltenen grünen Umhang, der ihm bis an die Knöchel reichte. Der Umhang selbst war aus feinster Jocastar-Wolle. Das Jocastar, ein dem Schaf ähnliches Tier, nur mit längeren, zierlicheren Beinen und schönerem Gesicht, lebte hoch in den Bergen der nördlichen Halbkugel. Einmal im Jahr, im September, wechselte es sein Haarkleid, und nur die geschicktesten Bergsteiger wagten sich hinauf in die dünne Luft, um seine Wolle zu holen. Gefüttert war Joes Umhang mit dem weichsten Fell, das es überhaupt gab: mit Chinchillapelz.
An den Füßen trug er glänzende schwarze Lederstiefel, auf denen die gebügelten Umschläge seiner malvenfarbenen Hose auflagen. Ein Seidentuch war um seinen Hals geschlungen, und auf dem Kopf hatte er eine eng anliegende Pelzmütze von der Form eines Kochtopfes, die bis weit über die Ohren gezogen war. Trotzdem konnte sie sein Haar nicht ganz fassen, sodass sich etliche Silberlocken darunter hervorkräuselten.
Ein Schlüsselbund, der an Joes Gürtel hing, klimperte im Takt seiner Schritte gegen seinen Oberschenkel. In der Rechten trug er einen ziemlich mitgenommenen Lederranzen, der in den Nähten ächzte, und in der Linken einen feuchten Beutel, aus dem in Abständen ein Quaken zu hören war.
Schnell und geräuschlos stieg er die steile Straße aufwärts, bis er das letzte Haus auf der linken Seite erreicht hatte. Es war ein leer stehender Laden. Dahinter lag nur noch der von einer Mauer umgebene Friedhof mit der Kirche, die Ortsgrenze. Ab hier verlor sich die Straße im grauen Nichts. Schnee hatte die Ladentür zugeweht und sich in den Ecken der Fenster angesammelt. Der Putz an den Mauern war abgeblättert, über der Tür knarrte schneidend im Wind ein altes Schild in Hutform. Joe blieb einen Moment stehen und warf einen prüfenden Blick die Dorfstraße hinunter. Trotz der frühen Morgenstunde sah er im gelben Schein von Öllampen oder Kerzen mehr als einmal die Silhouette eines Menschen, der unruhig hinter dem Fenster auf und ab ging. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.