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»Hier bin ich richtig«, murmelte er vor sich hin und öffnete die Tür.

Der Laden selbst war winzig. Zwischen Schaufenster und Ladentisch lagen nicht mehr als drei Schritte. Joe trat hinter den Ladentisch und öffnete die massive Tür zum hinteren Raum. Durch ein Fensterchen an der gegenüberliegenden Wand fiel schwacher Mondschein und brachte ein wenig Licht in die Dunkelheit. Die Einrichtung war spärlich und schäbig: zwei Stühle und ein Tisch, ein kleiner Herd und an der Wand ein schmales Bett. Im Gegensatz dazu war der Kamin riesig. Fast zwei Meter breit und einen halben Meter tief, beherrschte er die eine Wand fast vollständig. Zu beiden Seiten des Kamins stand je ein ausgeblichener Polstersessel. Es war nicht viel, aber es würde ausreichen.

Mitten in der Nacht richtete Joe sich hier ein. Er drehte den Docht hoch und zündete die Lampe auf dem Tisch an. Er nahm Halstuch und Mütze ab, schälte sich aus seinem Umhang und legte alles aufs Bett. Danach öffnete er seinen Ranzen und leerte ihn auf dem Tisch aus – während die ganze Zeit ein stummer Beobachter durchs Fenster linste. Der Zuschauer rührte sich nicht, wenn auch seine ohnehin schon großen dunklen Augen noch größer wurden, als er sah, was Joe nun aus seinem Ranzen nahm: Kleider, Schuhe, allerlei wertlosen Tand und Plunder, auch ein paar recht schöne Schmuckstücke, eine Flasche dunkles Bier, eine zweite dunkle Glasflasche ohne Etikett, vier Uhren (mit Goldketten), eine Sturmlaterne aus Messing, einen rechteckigen Glasbehälter, in dessen Deckel Luftöffnungen waren, ein großes schwarzes Buch, eine Feder, ein Tintenfass und ein Bein aus glänzendem Mahagoniholz. Der Ranzen war wundersam geräumig.

Geschickt setzte Joe den Glasbehälter zusammen, dann öffnete er das Zugband des Stoffbeutels. Er legte ihn behutsam auf den Tisch, und im Nu tauchte aus den Falten ein Frosch auf, ein außergewöhnliches Exemplar von unterschiedlichen Farbschattierungen und mit klugen Augen. Vorsichtig nahm Joe ihn in die Hand und setzte ihn in den Glasbehälter, woraufhin das Tier träge blinzelte und versonnen auf irgendwelchen getrockneten Insekten kaute.

Joe warf dem Frosch eine weitere Fliege ins Glas und verharrte dann auf einmal fast unmerklich in seiner Bewegung. Ohne sich umzuschauen, verließ er den Raum, während die Augen vor dem Fenster ihm weiterhin neugierig folgten. Aber sie sahen nicht, dass Joe sich auf die Straße hinausstahl; kein menschliches Ohr vermochte ihn um die Ecke des Ladens schleichen zu hören. Plötzlich stürzte er sich auf die Gestalt vor dem Schaufenster, packte sie am Kragen und zerrte sie ins Licht.

»Warum spionierst du mir nach?«, fragte Joe in einem Ton, der eine unverzügliche Antwort forderte.

Joe hielt den Jungen so im Griff, dass der keuchte und spuckte und hustete, denn seine Füße berührten kaum den Boden. Er versuchte zu sprechen, aber vor Angst und Schrecken brachte er kein Wort heraus. Er konnte nur den Mund auf-und zuklappen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Joe schüttelte ihn und wiederholte seine Frage, diesmal aber weniger scharf. Als er immer noch keine Antwort erhielt, ließ er dieses jämmerliche Bündel von einem Jungen in den Schnee fallen.

»Hmm.« Joe musterte den Jungen mit einem langen strengen Blick. Wahrhaftig ein blasses, armseliges Kerlchen, schwächlich und unterernährt und vor Kälte dermaßen zitternd, dass man glaubte, seine Knochen klappern zu hören. Doch seine Augen waren auffallend: dunkelgrün mit gelben Pünktchen und tiefen Schatten darum herum. Seine Haut passte zum Schnee, sowohl die Farbe als auch die Temperatur. Joe seufzte und zog ihn auf die Füße.

»Und wer bist du?«, fragte er.

»Fitch«, sagte der Junge. »Ludlow Fitch.«

Kapitel 4

Von Dichtkunst und Pfandleihern

Stumm und zitternd saß Ludlow am Tisch, während Joe sich um das Feuer kümmerte. Ein geschwärzter Kessel hing über den Flammen, und ab und zu rührte Joe darin herum.

»Willst du einen Teller Suppe?«

Ludlow nickte, und Joe schöpfte das dicke Gebräu in zwei Schalen und stellte sie auf den Tisch. Geräuschvoll machte sich der Junge darüber her.

»Woher kommst du?«

Ludlow wischte sich Suppe vom Kinn und brachte eine geflüsterte Antwort zustande. »Aus der Stadt.«

»Verstehe. Und willst du dorthin zurück?«

Ludlow schüttelte heftig den Kopf.

»Kann ich dir nicht verdenken. Meiner Erfahrung nach ist die Stadt ein verkommener, krank machender Ort, eine Ansammlung der übelsten Exemplare der Menschheit. Der gemeinsten und niedrigsten.«

Wieder nickte Ludlow und schlürfte gleichzeitig seine Schale aus, mit dem Ergebnis, dass Suppe auf seinen grauen Hemdkragen tropfte. Ohne zu zögern, steckte er den bekleckerten Stoff in den Mund und saugte die Flüssigkeit auf. Joe lächelte nicht, doch in seinem Blick lag Belustigung.

»Und was hast du in der Stadt gemacht?«

Ludlow stellte die Schale ab. Die wärmende Suppe hatte wieder Leben in seine erstarrten Glieder gebracht. »Alles Mögliche eben«, sagte er ausweichend, doch unter Joes eindringlichem Blick ergänzte er: »Aber hauptsächlich Taschen geplündert.«

»Deine Aufrichtigkeit ist wohltuend, Ludlow, aber ich bezweifle, dass diese Art von Arbeit hier sehr einträglich sein wird«, sagte Joe trocken. »Das ist ein kleines Dorf. Da gibt es wenig zu stehlen.«

»Ich finde immer irgendwas«, sagte Ludlow stolz.

»Das glaube ich wohl«, sagte Joe lachend und betrachtete den Jungen gedankenvoll. »Sag, hast du noch andere Talente?«

»Schnell rennen kann ich. Und mich zusammenrollen, so eng, dass ich noch an den kleinsten Stellen ein Versteck finde.«

Ob Joe diese Fähigkeiten beeindruckten oder nicht, war schwer zu erkennen. »Sicher recht nützlich«, sagte er, »aber wie steht’s mit Schulunterricht? Kannst du lesen und schreiben?«

»Aber natürlich«, sagte Ludlow, als wäre Joe ein Dummkopf, wenn er etwas anderes auch nur andeuten wollte. Falls Joe von dieser Antwort überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.

»Dann zeig mir deine Kenntnisse.«

Er stöberte in dem Durcheinander auf dem Tisch und gab Ludlow schließlich eine Feder, ein Tintenfass und ein Blatt Papier.

Einen Augenblick überlegte der Junge, dann schob er die Zungenspitze in den Mundwinkel und schrieb langsam in seiner unscheinbaren Krakelschrift:

Ein Gedichd

Das Karnickel is ein liber Has

Sein Fäll is weich, sein Schwans is weiss

Es sizt iner Wiese unn frist Gras

Nachts schläfts in eim Erdloch meist

Joe strich sich über das Kinn, um sein Lächeln zu verbergen. »Wer hat dir die Rechtschreibung beigebracht? Deine Eltern?«

Die bloße Vorstellung ließ Ludlow verächtlich schnauben. »Meine Eltern kümmern sich doch nicht um Geschriebenes! Und um mich erst recht nicht. Mr Lembart Jellico hat’s mir beigebracht, ein Pfandleiher in der Stadt.«

»Lembart Jellico?«, wiederholte Joe. »Wie interessant.«

»Kennt Ihr ihn etwa?«, fragte Ludlow, aber Joe suchte schon nach einem neuen Blatt Papier.

»Schreib«, sagte er und diktierte Ludlow ein paar Sätze. Der Junge schrieb sie sorgfältig nieder, bevor er Joe das Blatt zur Korrektur zurückgab.

»Zabbidou mit zwei b«, brummte Joe, »aber das konntest du ja nicht wissen.«

Er trat zurück und musterte den Jungen mit einem langen Blick. Er glich so vielen anderen Stadtjungen, schmutzig und mager. Ganz sicher aber roch er wie einer. Seine Kleider erfüllten kaum mehr ihren Zweck (abgesehen von dem Halstuch und den Handschuhen, die von viel besserer Qualität waren), und der misstrauische Gesichtsausdruck ließ das Elend seines bisherigen Daseins ahnen. Überall hatte er blaue Flecken und sein Mund war geschwollen, aber in seinen dunklen Augen blitzte Intelligenz auf – und noch etwas anderes.