Выбрать главу

Deshalb freute ich mich, als Joe erzählte, er sei Pfandleiher. Er schien zwar anders als Mr Jellico, und mir war auch klar, dass Pagus Parvus etwas anderes war als die Stadt, aber ich fühlte mich sicher. Ich glaubte zu wissen, was mich erwartete. Was allerdings ein Geheimnis-Pfandleiher war, wusste ich damals noch nicht.

Kapitel 6

Eine große Eröffnung

Pagus Parvus unterschied sich tatsächlich sehr von der Stadt. Es war ein kleines, sich eng an den Hang eines steilen Berges klammerndes Dorf, und es lag in einem Land, das seinen Namen wieder und wieder geändert hatte. Für die meisten Menschen ist diese Zeit nur noch ferne Vergangenheit. Der Ort bestand aus einer Hauptstraße mit Kopfsteinpflaster, zu beiden Seiten gesäumt von Wohnhäusern und Läden, die in einem Stil erbaut waren, wie er zur Zeit des großen Feuers in der berühmten Stadt London verbreitet war. Die ersten und zweiten Stockwerke (und beim Haus des wohlhabenden Jeremiah Ratchet auch das dritte und vierte) ragten ein Stück über den Bürgersteig. In manchen Fällen schränkten die überhängenden Stockwerke sogar das Sonnenlicht ein. Die Fenster waren klein, mit bleiverglasten Scheiben, und an den Außenmauern verliefen parallel zueinander dunkle Balken. Die Mauern zeigten sonderbare, sogar bedenkliche Neigungen, weil jedes Gebäude im Lauf der Jahre leicht abwärtsgerutscht und allmählich immer tiefer ins Erdreich gesunken war. Wäre auch nur ein einziges eingestürzt, hätte es zweifellos alle anderen mit sich gerissen.

Das Dorf wurde überragt von einer Kirche, einem uralten Gebäude, das in jenen Tagen hauptsächlich dann aufgesucht wurde, wenn jemand geboren oder gestorben war. Der Eintritt ins Leben und der Austritt aus demselben galten als besondere Anlässe. Für das dazwischenliegende Dasein hielten die meisten der Dorfbewohner einen regelmäßigen Kirchgang jedoch für verzichtbar. Alles in allem war das Pfarrer Stirling Oliphaunt nur recht. Er suchte seine Herde nicht auf; ihm war es lieber, wenn sie zu ihm kam. Der Berghang war ja auch ungewöhnlich steil.

Dennoch und trotz des tiefen Schnees drängte sich bereits am Vormittag eine kleine Menschenmenge vor Ludlows neuem Zuhause. Noch ehe die Sonne ganz hinter den Wolken hervorgekrochen war, ging das Gerücht um, im Hutladen habe sich ein neuer Inhaber niedergelassen. Keuchend und schnaufend stiegen die Dorfbewohner einer nach dem anderen den Berg hinauf, um sich selbst zu überzeugen. Die trüben Fensterscheiben waren jetzt sauber und klar, wenn auch die Sachen im Schaufenster wegen der unterschiedlichen Dicke des Glases leicht verzerrt wirkten. Neugierig drückten die Leute ihre Gesichter an die Scheiben, um zu sehen, was hier angeboten wurde.

»Ist es ein Trödelladen?«, fragte ein Mann. Eine verständliche Frage, denn bis auf die Ess-und Trinksachen war der gesamte Inhalt aus Joes Ranzen mit Preisschildern versehen im Fenster ausgestellt. Das Holzbein lehnte in der Ecke, aber in diesem Fall gab es keinen Hinweis darauf, was es kostete.

»Hier gibt’s Tiere«, meinte ein anderer.

Deutlich war Joes Frosch zu erkennen, er saß in seinem Glasbehälter auf dem Ladentisch. Bei Tageslicht war sein Anblick noch ungewöhnlicher: Auf seiner Haut glänzte ein Muster in kräftigen Rot-, Grün-und Gelbtönen. Er glich kein bisschen den Fröschen, die in den trüben Tümpeln von Pagus Parvus lebten. Seine Füße waren nicht mit Schwimmhäuten versehen, sondern erinnerten eher an langgliedrige Hände mit knotigen Gelenken, die das Schwimmen erschweren mussten.

Wie auf ein Stichwort erschien Joes Gesicht am Fenster. Er hatte ein Schild in der Hand, das er nun sorgfältig vor die ausgestellten Waren legte. Darauf stand:

Joe Zabbidou – Pfandleiher

Die Dorfbewohner nickten einander zu, nicht unbedingt beifällig, eher wie um zu sagen: »Hab ich doch gleich gesagt« – auch wenn sie gar nichts dergleichen geäußert hatten. Dann erschien Joe mit einer Leiter, die er von außen gegen die Wand über der Tür lehnte. Geschickt stieg er hinauf und entfernte das alte hutförmige Schild von der Stange. Stattdessen befestigte er das allgemein gebräuchliche Symbol der Pfandleiher daran: drei im Dreieck angeordnete goldene Kugeln. Sie schwangen träge an der Kette und glitzerten in der Wintersonne.

»Ist der Frosch zu verkaufen?«, fragte jemand.

»Leider nicht«, sagte Joe ernst. »Er ist mein Gefährte.«

Diese Bemerkung erheiterte die Menge sichtlich, und ihr Gekicher ließ eine Atemwolke über ihre Köpfe wehen.

»Was kostet das Bein?«, fragte einer. Joe schmunzelte, stieg mit erstaunlicher Geschicklichkeit von der Leiter und blieb vor der Menge stehen.

»Ah ja«, rief er. »Das Bein. Nun, dazu gibt es eine Sage.«

»Eine Waage? Zu dem Bein einfach so dazu?«, fragte ein Junge, der weniger für seine Geistesblitze als für seine Neugier bekannt war. Seine beiden Brüder neben ihm kicherten.

»Eine Sage, allerdings«, antwortete Joe. »Doch die erzähle ich ein andermal.«

Mit hörbaren Seufzern zeigten die Leute ihre Enttäuschung, aber schon räusperte sich Joe und hob die Hand.

»Meine Damen und Herren, mein Name ist Joe Zabbidou«, verkündete er, wobei er das J so weich aussprach, dass es eher wie Sch klang. »Ich bin gekommen, um euch zu helfen. Ich arbeite unter dem Zeichen der drei goldenen Kugeln, weil ich Pfandleiher bin, ein ehrbarer Beruf seit Jahrhunderten, der, glaube ich, in Italien seine Wurzeln hat. Ich gebe euch mein Wort« – an dieser Stelle legte er die rechte Hand aufs Herz und richtete den Blick himmelwärts –, »ich gebe euch mein Wort, dass ich einen guten Preis für eure Sachen zahle und nur eine geringe Gebühr verlange, sobald ihr sie wieder auslösen wollt. Angenommen wird alles: Wäsche und Schuhe, Schmuck, Uhren und …«

»Holzbeine!«, ertönte eine Stimme.

Joe überging diesen Zwischenruf und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Ihr habt mein Wort. Joe Zabbidou betrügt euch nicht.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann brach wohlwollender Beifall aus.

Lächelnd verbeugte sich Joe. »Ich danke euch«, sagte er, als seine Zuhörer herankamen, um ihm die Hand zu schütteln.

»Ihr seid sehr freundlich.«

Im Haus war Ludlow plötzlich aus einem Traum erwacht, in dem ihn tausend feine Nadeln gepikst hatten. Als er sich aufsetzte, merkte er, dass das Feuer neu entfacht war: Glühende Funken von einem zischenden Holzscheit flogen ihm an die Wange. Joe konnte er nirgends sehen, doch auf dem Tisch waren Brot, Milch und ein Krug Bier. Ludlow spürte plötzlich, dass er einen Bärenhunger hatte. Er trank von der schäumenden Milch und aß eine dicke Scheibe von dem noch warmen Brot, dann lehnte er sich zufrieden zurück. Aber nicht lange. Von draußen war Lärm zu hören, und er ging nachsehen.

Immer noch ließ sich Joe von den Dorfleuten die Hand drücken. Als er Ludlow an der Tür sah, nickte er den Leuten zu, die alle unschlüssig herumstanden und den Gegenstand ihrer Neugier offenbar nicht gern verlassen mochten. Joes Ankunft war ein aufregendes Ereignis für die Einwohner von Pagus Parvus. Fremde kamen nur sehr selten in ihr Dorf.

Und das ist schade, dachte Joe, während er die eifrigen Gesichter vor sich musterte. Wieder und wieder tauchte die gleiche Hakennase auf, die schmalen, eng zusammenstehenden Augen, das schiefe Lächeln – in jedem Gesicht in anderer Verbindung.

Diesem Ort würde frisches Blut guttun, dachte er. Dann sagte er laut zu Ludlow: »Was für ein freundlicher Empfang, Ludlow, wie?«

Er wandte sich wieder seinem Publikum zu, immer noch grüßend und Hände schüttelnd. Ludlow dagegen überlegte instinktiv, ob hier wohl jemand etwas Lohnenswertes in der Tasche mit sich herumtrüge.