»Hilfe?«, sagte Jeremiah zweifelnd. »Ich glaube nicht, dass wir Eure Art von Hilfe brauchen. Ich helfe den Menschen hier. Sie wissen, wen sie um Geld bitten können, wenn sie welches brauchen. Ihr werdet feststellen, dass ich gut für diesen Ort sorge. Nicht lange, und Ihr werdet Eure Siebensachen wieder einpacken.«
Abrupt machte er kehrt, hochzufrieden, dass er Joe die hiesigen Verhältnisse von Anfang an unmissverständlich klargemacht hatte. Dann stolzierte er breitbeinig davon, wobei sein Gang umso lächerlicher wirkte, je schneller er wurde.
»Jeremiah Ratchet«, hörte ich Joe nachdenklich sagen. »Unsere Wege werden sich wohl noch öfters kreuzen.«
Irgendwie hatte Jeremiahs Anwesenheit einen dunklen Schatten über die Menge geworfen. Sie machten sich zu zweit oder zu dritt auf den Weg die abschüssige Straße hinunter und stützten sich gegenseitig. Nur ein junges Mädchen blieb noch. Ich meinte ihr Gesicht zu kennen, konnte es aber erst einordnen, als sie fast unmittelbar vor mir stand.
»Hallo, du«, sagte sie schüchtern. Es war Polly, Jeremiahs Dienstmädchen.
»Hallo«, antwortete ich. Etwas Interessanteres fiel mir nicht ein, obwohl ich mir das Hirn zermarterte, und so blieben wir stumm voreinander stehen. Sie sah müde und durchgefroren aus. Sie trug keine Handschuhe, ihre Knöchel waren rot und ihre Fingerspitzen blau.
»Besser, ich gehe jetzt«, sagte sie schließlich. »Ratchet wäre ganz schön wütend, wenn er wüsste, dass ich mit dir gesprochen habe.« Dann machte sie kehrt und sprang davon. Sie tat mir ein bisschen leid mit ihren dürren Steckenbeinen und der roten Nase. Dass Jeremiah Ratchet nicht unbedingt der sympathischste Dienstherr war, konnte ich mir lebhaft vorstellen.
Joe stand lässig gegen die Leiter gelehnt und sah zu uns herüber, plötzlich aber drehte er den Kopf in eine andere Richtung. Als ich seinem Blick folgte, sah ich ein zweites Mal die kleine gebeugte Gestalt mit der Schaufel auf der Schulter. Während des ganzen Spektakels hatte sich der Mann im Hintergrund gehalten, sein kantiges Gesicht war ausdruckslos geblieben. Jetzt ging er, im Gegensatz zu den anderen Dorfleuten, bergauf in Richtung Kirche. Joe sah ihm nach, wie er durch das Friedhofstor verschwand, und zwinkerte mir zu.
»Beeil dich«, sagte er, dann marschierte er los und folgte dem gebückt gehenden Fremden. Ich zog die Tür hinter mir zu, und vor Aufregung lief mir ein leichtes Kribbeln über den Rücken.
Kapitel 9
Obadiah Strang
Ein uralter Friedhof umgab die Kirche. Der Hang war so steil, dass sich keine Graböffnung ausheben ließ, ohne dass die eine Seite des Grabes höher lag als die andere. Glücklicherweise verrichtete Obadiah, der Totengräber, seine Arbeit sehr gewissenhaft und gab sich große Mühe, damit der Boden eines jeden Grabes schön eben war und die arme tote Seele im Sarg in Frieden auf dem Rücken liegen konnte und nicht etwa auf die Seite rollte. Bei Beerdigungen waren die Trauernden in ständiger Bewegung und traten von einem Fuß auf den anderen, um aufrecht stehen zu bleiben. Nur die Bergziegen, die ab und zu über den Friedhof wanderten, bewegten sich hier sichtlich ohne Mühe: Sie besitzen ganz einfach die Fähigkeit, sich bei jeder Steigung im Gleichgewicht zu halten. Offenbar fühlten sie sich auf dem Friedhof wie zu Hause.
Dicht gefolgt von Ludlow trat Joe durch das rostige Tor und blieb stehen, um zu lauschen. Der Wind trug das rhythmische Geräusch einer grabenden Schaufel heran, und als er zwischen den Grabsteinen hangabwärts blickte, sah er Obadiah Strang beim Ausheben einer frischen Grube.
Obadiah, der schon als Kind bucklig gewesen war, hatte endlich das Alter erreicht, das ein gekrümmter Rücken normalerweise vermuten lässt. Man sah dem Mann an, dass er seinen Lebensunterhalt mit dem Schaufeln von Löchern verdiente, und im Lauf der Jahre hatte sich die Form seiner Hände dem Schaufelgriff angepasst. Kleine Gegenstände aufzunehmen, bereitete ihm Probleme, doch war er schon dankbar, dass seine gekrümmten Finger noch bequem eine Flasche Bier halten konnten.
Obadiah arbeitete eine ganze Weile weiter, bevor er merkte, dass er Besuch hatte. Schließlich stieg er mithilfe einer kleinen Leiter aus der Grube und steckte seine Schaufel mit Nachdruck in den Erdhaufen. In seinen Augenbrauen klebten gefrorene Schweißtropfen, er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und hinterließ dabei einen dunklen Schmierer. Es war nicht einfach, im Winter ein zwei Meter tiefes Loch zu graben.
Joe begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck. »Ich habe Euch vor meinem Laden gesehen«, erklärte er.
»Aha«, sagte Obadiah schroff. »Ihr seid der Pfandleiher. Also, ich will Euch gleich sagen, dass Ihr mit mir kein Geschäft machen werdet. Ich besitze kaum mehr als die Kleider, in denen ich hier stehe.«
Misstrauisch sah er zu Ludlow hin, der hinter einem halb eingesunkenen Grabstein zurückgeblieben war. Dieser Junge gefiel ihm kein bisschen. Dem traute er nicht über den Weg. Überhaupt, einem Menschen, der nicht blinzelte, traute er nun mal nicht, und Ludlows Blick ging ihm schlichtweg auf die Nerven.
»Und wer ist das?«
»Mein Gehilfe«, erklärte Joe ruhig und zog Ludlow zu sich heran.
Ludlow lächelte und streckte Obadiah die Hand entgegen, wenn auch zögernd. Obadiah übersah sie.
»Gehilfe? Ihr bezahlt einen Gehilfen? Ihr Pfandleiher seid doch alle gleich. Ihr beruft euch auf eure Armut, dabei lebt ihr ganz anders.« Er griff wieder nach seiner Schaufel, doch Joe nahm ihn am Arm.
»Wartet.«
»Was wollt Ihr von mir?«, sagte Obadiah ungeduldig. »Ich habe zu tun.«
Joe blickte fest in Obadiahs müde Augen. Eigentlich wollte der Totengräber Joes Blick ausweichen, aber aus irgendeinem Grund war ihm das nicht möglich. In seinen Ohren rauschte es plötzlich, sanft wie Meereswellen an einem Kiesstrand. Er spürte, wie seine Knie zitterten, und in seinen Fingerspitzen kribbelte es. Staunend sah Ludlow, wie der ruppige alte Mann sichtlich milder wurde und sich entspannte.
»Ihr seht aus wie ein Mann, der etwas zu erzählen hat«, sagte Joe langsam. »Kommt doch heute Nacht in meinen Laden. Um Mitternacht. Niemand muss davon erfahren.«
Obadiah brachte nur mühsam eine Antwort heraus. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht auch nicht.«
»Also, bis dahin«, erwiderte Joe, als wäre seine Einladung angenommen. Dann brach er mit einem Zwinkern den Bann, und Obadiah musste sich erst mal auf seine Schaufel stützen.
Kapitel 10
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Eigentlich hatte ich gar nicht richtig verstanden, was auf dem Friedhof geschehen war. Ich wusste nur, dass man eine Art von Vereinbarung getroffen hatte, aber die näheren Einzelheiten waren mir entgangen. Als wir den Friedhof verließen, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass wir beobachtet würden. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Gestalt hinter einem Baum stehen, die zu uns herüberblickte. Der Kleidung nach vermutete ich in dem Mann den Pfarrer des Ortes. Ich stieß Joe an. Er hatte ihn ebenfalls gesehen und nickte grüßend in seine Richtung, woraufhin der Pfarrer tiefrot wurde, auf dem Absatz kehrtmachte und in die Kirche floh.
Vor dem Laden standen nur noch drei Jungen herum, und die rannten davon, sobald sie Joe sahen. Er lachte, als sie die Straße hinunterschlitterten. Wir gingen durch den Ladenraum ins Hinterzimmer und setzten uns ans Feuer. Als Joe nach minutenlangem Schweigen immer noch keine Anstalten machte, sich mit mir zu unterhalten, sondern im Gegenteil eher aussah wie einer, der jeden Moment einschläft, fragte ich ihn nach meiner Aufgabe.
»Deine Aufgabe?«, wiederholte er mit herzhaftem Gähnen. »Ich erkläre sie dir später. Für den Augenblick genügt es, dass du mich weckst, falls Kundschaft kommt.«