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»Setz dich«, sagte er zu Ludlow. »Verhalte dich mucksmäuschenstill, und wenn ich dir ein Zeichen gebe, schreibst du, was du hörst, in dieses Buch. Ich habe die Seite gekennzeichnet.«

Ludlow schüttelte seine Schläfrigkeit ab und setzte sich an den Tisch. Er nahm das Buch und betrachtete es prüfend. Es war alt, aber in gutem Zustand, dick und fast zu schwer, um es in einer Hand halten zu können. Auf dem Lederumschlag waren mit Blattgold die Worte eingeprägt: Verba Volant Scripta Manent.

Rechts unten in der Ecke standen in großen verzierten Goldbuchstaben die Initialen JZ. Ein rotes Seidenband kennzeichnete die neue Seite, und in der Mitte des Buches lag eine Feder bereit. Die weißen Seiten schienen im Halbdunkel zu schimmern, und Ludlow strich unwillkürlich mit den Fingern über ihre glatte Oberfläche. Er blätterte flüchtig durch die vorhergehenden Seiten; sie waren von plumper Hand beschrieben und raschelten, als er sie berührte. Joe hatte ihm zwar nicht ausdrücklich verboten, in dem Buch zu lesen, doch Ludlow hatte das deutliche Gefühl, dass es ihm nicht recht wäre. Leise legte er das schwarze Buch wieder so hin, wie er es vorgefunden hatte, die leere Seite aufgeschlagen.

Auf dem Bürgersteig vor dem Leihhaus stand Obadiah Strang und knetete seine verkrümmten Hände. Er wollte klopfen, schreckte aber davor zurück. Die Toten machten ihm keine Angst, die Lebenden anscheinend schon. Schließlich verlor er endgültig den Mut, machte auf dem Absatz kehrt, doch gerade als er wieder gehen wollte, öffnete sich hinter ihm die Tür.

»Obadiah, mein guter Mann«, sagte Joe herzlich, trat hinaus auf die Straße und nahm ihn am Arm. »Ich erwarte Euch schon.«

Und wieder verließ Obadiah unter Joes tiefgründigem Blick jeder Widerstand, er ließ sich in das Hinterzimmer führen und sanft zu dem Sessel am Feuer dirigieren. Ludlow saß, ein wenig nervös und ohne sich zu rühren, auf seinem Stuhl und beobachtete alles genau. Obadiah umklammerte die weichen Armlehnen des Sessels, und als sie laut knirschten, zuckte Ludlow zusammen.

»Wollt Ihr etwas mit mir trinken?«, fragte Joe. »Ein ganz besonderes Tröpfchen?«

Obadiah murmelte etwas Unverständliches. Joe füllte die Gläser und reichte eines Obadiah. Dann griff er nach seinem eigenen und nahm auf dem Sessel gegenüber Platz.

»Zum Wohl«, sagte er und stieß mit dem Totengräber an.

Obadiah nahm erst einen zaghaften Schluck, dann einen kräftigeren. Schnaps war nicht sein gewohntes Getränk, und einen von diesem Kaliber hatte er noch nie gekostet. Er genoss das Gefühl von Wärme, während ihm der Alkohol durch die Kehle rann. Als er spürte, wie sich seine verkrampften Schultern allmählich lockerten, lehnte er sich im Sessel zurück.

»Warum bin ich hier?«, fragte er. Eigentlich hatte er das gar nicht sagen wollen, es kam wie von selbst über seine Lippen.

»Weil Ihr Hilfe braucht«, erwiderte Joe.

»Und Ihr könnt mir helfen?«

Joe nickte und beugte sich vor. »Wenn ich Euch so betrachte, Obadiah, sehe ich einen Mann vor mir, der ein Geheimnis hat. Ein Geheimnis, das eine solche Last darstellt, dass es Euch zu verschlingen droht. Nachts lässt es Euch nicht schlafen, und Tag für Tag frisst es an Eurer Seele.« Er beugte sich noch weiter vor. »Das muss nicht sein.«

Obadiahs Augen glänzten. Eine kleine Träne löste sich aus dem einen Augenwinkel und rollte über die tiefen Runzeln hinweg, die sich in seine Wangen gegraben hatten.

»Was kann ich denn tun?«, flüsterte er verzweifelt.

Joes Stimme klang beruhigend und voller Zuversicht. »Verpfändet Euer Geheimnis und macht Euch frei von seiner schrecklichen Last.«

»Verpfänden?« Obadiah war ein wenig verwirrt von dem ungewohnten Getränk, von Joes Blicken und seiner sanften Stimme. In seinem Kopf drehte sich alles, und ihm war, als würde er langsam ertrinken.

»Ihr meint, Ihr wollt mein Geheimnis kaufen? Aber warum?«

»Das ist mein Geschäft«, sagte Joe. »Ich bin Pfandleiher.«

Obadiah schüttelte langsam den Kopf und legte vor Ratlosigkeit die Stirn in Falten. »Aber wenn ich es verpfände … muss ich es dann auch wieder zurückkaufen? Wenn ich es nämlich nicht zurückkaufe, habt Ihr das Recht, es weiterzuverkaufen. Und wenn Ihr es verkauft, dann ist es kein Geheimnis mehr.« Obadiah legte sich das Leben gern auf einfache Weise zurecht, indem er es schlicht und logisch betrachtete.

»Ah«, rief Joe. »Ich denke, Ihr werdet meine Bedingungen recht annehmbar finden. Falls Ihr Euer Geheimnis zurückhaben wollt, zahlt Ihr, was Ihr von mir bekommen habt, plus eine kleine Gebühr. Falls nicht, werde ich das Geheimnis für Euch hüten, solange Ihr wollt, lebenslang, wenn es Euer Wunsch ist. Falls Ihr es aber tatsächlich nie mehr zurückfordert, werde ich es bewahren, bis Ihr im Grab liegt und darüber hinaus – und dass es Euch dann noch besonders interessiert, möchte ich bezweifeln.«

»Also … das klingt ganz in Ordnung, Mr Zabbidou.«

Joe lächelte. »Dann wollen wir beginnen. Ich brenne darauf, einem Menschen seine Ruhe wiederzugeben.«

Unauffällig nickte er Ludlow zu, der diese Geste als sein Zeichen erkannte. Mit zitternder Hand hob er die Feder, tauchte sie in die Tinte und hielt sie, zum Schreiben bereit, über die leere Seite.

»Und Ihr schwört, dass Ihr es nicht weitererzählt?«, fragte Obadiah mit bebender Stimme.

Joe schüttelte ernst den Kopf. »Niemals«, sagte er. »Bei meinem Leben.«

»So hört meine Geschichte, und vielleicht könnt Ihr ja helfen. Weiß Gott, sonst kann’s keiner.«

Während der folgenden Stunde waren die einzigen Geräusche im Raum Obadiahs stockende Stimme und das leise Kratzen der Feder auf Papier.

Ludlows Arbeit hatte begonnen.

Kapitel 12

Auszug aus dem

Schwarzen Buch der Geheimnisse

Das Geständnis des Totengräbers

Ich heiße Obadiah Strang und ich habe ein schreckliches Geheimnis. Es verfolgt mich zu jeder wachen Stunde, und des Nachts, wenn ich endlich eingeschlafen bin, beherrscht es meine Träume.

Ich mag nur ein einfacher Totengräber sein, aber ich bin stolz darauf. Nie habe ich einen Menschen betrogen: Jeder bekommt zwei Meter, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe immer ein bescheidenes Leben geführt. Ich brauche wenig und ich verlange nichts. Ich war ein zufriedener Mann – bis vor wenigen Monaten, als ich mit meinem Vermieter, Jeremiah Ratchet, in Schwierigkeiten geriet.

Es war eine schlechte Woche gewesen, wenige Gräber zu schaufeln und noch weniger Trinkgeld. Am Tag der Mietzahlung konnte ich die erforderliche Summe nicht aufbringen. Gewiss habt Ihr schon von Jeremiah Ratchet gehört. Er ist ein gehasster Mann in dieser Gegend, und ich hatte Angst, wie er mit mir umspringen würde. Doch dann verblüffte er mich mit dem Vorschlag, ich solle einfach in der nächsten Woche den doppelten Betrag zahlen. Und ich Dummkopf bin auf sein Angebot eingegangen. Als aber der nächste Zahltag kam, behauptete er, ich schulde ihm achtzehn Shilling, nicht zwölf.

»Sechs Shilling Zinsen für den Kredit«, erklärte er mit hinterhältigem Grinsen.

Natürlich hatte ich das zusätzliche Geld nicht, und eine Woche später war meine Schuld noch höher geworden. Ich bezahlte, so viel ich konnte, und versuchte ihm meine Notlage klarzumachen, aber Jeremiah Ratchet muss dort, wo sein Herz sein sollte, ein Loch haben. Nach vier Wochen schuldete ich ihm so viel, dass ich nicht mehr hoffen konnte, das Geld jemals aufzubringen.

Genau das hatte er die ganze Zeit bezweckt.

»Ich will dir etwas vorschlagen«, sagte er, als er das nächste Mal kam. »Eine Möglichkeit, wie du deine Schuld abarbeiten kannst.«