»Lebt es?« fragte Skar hastig dazwischen. Der erschrockene, besorgte Ton in seiner Stimme überraschte ihn selbst, und wie zur Antwort erschien ein neuerliches, amüsiertes Glitzern in Gowennas Augen.
»Es lebt, und es ist gesund«, beruhigte sie ihn. »Noch. Du hast gesiegt, Skar.«
»Gesiegt...«, wiederholte Skar. Gesiegt? Er konnte sich nicht einmal erinnern, gekämpft zu haben. Geschweige denn gesiegt.
»Versuche nicht, es zu verstehen«, sagte Gowenna, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Was du getan hast, war richtig, und das allein zählt. Manchmal handeln wir auch, ohne zu denken. Das Kind lebt, und seine Kräfte sind gebannt, wenigstens für den Moment. Alles andere muß die Zukunft bringen.« Ihre Art zu reden kam Skar sonderbar vor. Gowenna sprach normalerweise nicht so gestelzt, und es schien ihm, als hätte sie sich diese Worte genau überlegt; vielleicht, um irgend etwas, das er darin zu hören glaubte, gerade nicht zu sagen. Aber er war noch viel zu benommen, um wirklich darüber nachzudenken.
Gowenna stand auf, bückte sich noch einmal und streckte ihm die Hand entgegen. Skar griff nach kurzem Zögern danach und zog sich auf die Füße. Wieder fiel ihm auf, wie stark diese zierliche Frau war. »Wo ist es?« fragte er.
»Das Kind?« Gowenna deutete mit einer Kopfbewegung auf ein in Decken und Felle eingedrehtes Bündel zwischen den beiden Feuerschalen und hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück, als er sich herumdrehen und hingehen wollte, bückte sich selbst danach und nahm es mit einer Behutsamkeit auf, die Skar bei ihr zuallerletzt erwartet hatte. »Es schläft«, sagte sie. Sie sprach unwillkürlich leiser. »Laß es schlafen. Wenigstens merkt es während dieser Zeit nicht, was geschieht.«
Skar sah sie scharf an. »Was ist los?« fragte er. »Irgend etwas stimmt nicht, oder?«
Gowenna wich seinem Blick aus. »Es ist alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Es ist nur...« Sie seufzte, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und lockerte den Schleier ein wenig. Instinktiv drückte sie das Fellbündel mit dem Kind fester an sich, als müsse sie es selbst gegen ihn beschützen. »Was diesem Kind fehlt, ist das gleiche wie uns«, fuhr sie nach einer hörbaren Pause fort. »Wir haben keine Milch, keine sauberen Tücher, kein heißes Wasser.«
»Dann wird es sterben«, murmelte Skar.
»Nicht unbedingt. Ich... kann einen Sud aus Cuba-Nüssen bereiten, mit dem es ein paar Tage überleben könnte. Und es gibt noch andere Möglichkeiten.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«
»Was dann ?« fragte Skar. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie allein waren. Yar-gan war verschwunden, und auch Velas Leichnam war nicht mehr da. Er war froh. Er hatte einen kurzen Blick auf sie erhascht, bevor er die Besinnung verlor. Gowenna hatte das Kind aus ihrem Leib herausgeschnitten, nachdem sie gestorben war.
Erneut kamen ihm die Stimmen und das hastige Trappeln von Schritten zu Bewußtsein. Das Schiff hallte von ihnen wider. Die gesamte Besatzung mußte an Deck sein, den Geräuschen nach zu urteilen.
Gowenna deutete seine stumme Frage richtig. »Es ist soweit, Skar«, sagte sie.
»Helth?«
»Der Dronte«, unterbrach Gowenna leise. Ihr Blick flackerte.
»Er... kreuzt vor der Hafeneinfahrt, seit die Sonne aufgegangen ist. Er kommt nicht näher, aber...«
»Aber er läßt uns auch nicht heraus«, vollendete Skar den Satz, als Gowenna im Sprechen innehielt.
Sie lachte bitter. »Womit auch?« fragte sie. »Auf einer treibenden Eisscholle vielleicht?« Sie seufzte, schwieg einen Moment und starrte zu Boden. Als sie weitersprach, schwankte ihre Stimme. »Mein Gott, Skar, diese Schiffe waren meine letzte Hoffnung. Ich habe gebetet, daß es sie gibt, daß dieser Hafen nicht leer ist, und jetzt...«
»Vielleicht waren es die falschen Götter, zu denen du gebetet hast«, bemerkte Skar dumpf.
»Oder die falschen, die meine Gebete erhörten«, antwortete Gowenna.
Skar ging an ihr vorbei, öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus. Die Geräusche von Stimmen und Schritten wurden lauter, und von oben drang gelbes Sonnenlicht in das trübe Rot der Flammen. Er hörte, wie Gowenna ihm folgte, widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich herumzudrehen, und ging mit raschen Schritten weiter.
Die Dämmerung war endgültig gewichen, als er an Deck trat. Die Sonne stand wie ein einzelnes rotes Auge direkt unter dem höchsten Punkt der Hafeneinfahrt; ihre Strahlen fielen fast waagerecht in die Höhle und ließen die drei Schiffe überlange Schatten werfen. Das Wasser wirkte nicht mehr so klar wie bei Nacht, und Skar sah, daß sich am Ufer eine fast armdicke, grauweiße Schicht aus Kalk und Muschelablagerungen gebildet hatte. Dieses eisige Meer war nicht immer so tot gewesen wie jetzt.
Er ging zum Heck des Schiffes, stieg die kurze Leiter zum Achteraufbau hinauf und trat an die Reling. Nach Gowennas Worten hatte er halbwegs erwartet, den Dronte wie einen schwarzen Todesengel dicht vor der Einfahrt hocken zu sehen, aber er war sehr weit entfernt, nicht viel mehr als ein dunkler Punkt, der in gleichmäßigem Takt auf den Wellen auf und ab hüpfte. Selbst wenn er alle Segel setzen und zusätzlich rudern würde, mußte er eine Stunde oder länger brauchen, um die Höhle zu erreichen. Für endlose Minuten stand Skar reglos da und blickte aufs Meer hinaus, und obwohl der Dronte unendlich weit entfernt war, glaubte er jede Einzelheit, jedes winzige Detail seines bizarren Leibes zu erkennen. Er versuchte, etwas von dem alten Haß in sich zu entdecken, aber er war nicht mehr da. Der Anblick des Dronte bedeutete ihm nichts mehr. Er konnte nicht einmal mehr einen Feind in ihm sehen.
Nach einer Weile wandte er sich wieder um, stieg vom Achterdeck herunter und sah sich nach Yar-gan um. Gowenna war ebenfalls an Deck gekommen, das Kind, das sie noch immer in den Armen hielt, schützend an sich gepreßt; er ignorierte sie, ging an ihr vorbei und sprach einen der Matrosen auf den Sumpfmann an.
»Euer Kamerad ist dort oben, Herr«, antwortete der Mann mit einer Kopfbewegung zu einem der zahllosen Höhleneingänge in der Wand, Skar blickte in die angedeutete Richtung und entdeckte eine steile, direkt in den Fels gehauene Treppe, die zu der mannshohen Öffnung hinaufführte.
»Allein?« fragte er.
Der Matrose nickte, versuchte vergeblich, seinem Blick standzuhalten und senkte schließlich den Kopf. »Ja, Herr«, bestätigte er halblaut. Sein demütiger Tonfall versetzte Skar beinahe in Rage, aber er beherrschte sich und fuhr in ruhigem, sachlichem Ton fort: »Und was will er dort?«
»Das... weiß ich nicht, Herr«, antwortete der Freisegler. »Er wollte schon längst zurück sein. Ich... kann ihn holen, wenn Ihr es befehlt.«
»Dieser -«
»Er sucht, Skar«, sagte Gowenna laut. Skar wandte sich zornig um und starrte sie an. Sie stand im Schatten des Decksaufbaus, so daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber es war etwas in ihrer Stimme, das ihm nicht gefiel.
»Und wonach?« fragte er gepreßt.
Gowenna hob in einer kaum merklichen Bewegung die Schultern. »Einem Fluchtweg, einem Versteck... vielleicht nach einem Schiff. Cor-ty-cor ist groß. Es kann noch andere Höhlen geben.« Ihre Worte waren gelogen. Sie wußten beide, wonach Yar-gan in Wahrheit suchte.
»Natürlich«, knurrte er. »Und in einer davon steht ein geflügeltes Pferd, das uns sicher nach Elay zurückbringen wird. Was glaubt dieser Narr damit zu erreichen, daß er sein Leben wegwirft?« Mit einer wütenden Bewegung fuhr er herum, stürmte über das Deck und sprang vom Schiff herunter. Gowenna rief ihm irgend etwas nach, aber er achtete nicht auf ihre Worte, sondern lief mit weit ausgreifenden Schritten auf die steinerne Treppe zu. Sein Mantel behinderte ihn. Er zog ihn aus, schleuderte ihn achtlos von sich und begann mit dem Aufstieg.
Es erwies sich als schwieriger, als er befürchtet hatte. Die Stufen waren kaum breiter als zwei nebeneinandergelegte Hände und zum Teil vereist; ein einziger unbedachter Schritt konnte einen Sturz auf den Felsen oder in das eisige Wasser des Hafenbeckens und somit den Tod bedeuten. Er wurde langsamer, blieb auf halber Strecke stehen und ließ sich gegen die Wand sinken, um Atem zu schöpfen. Die kalte Luft brannte in seiner Kehle, und als er den Fehler beging, nach unten zu sehen, wurde ihm schwindelig.