Aber sein Zorn fegte die Erschöpfung und das Schwindelgefühl noch einmal hinweg. Er stieg - etwas vorsichtiger und wesentlich langsamer - weiter und erreichte nach wenigen Minuten keuchend und schweißgebadet den Stolleneingang. Die Stufen endeten einen Meter unter dem runden Loch. Skar richtete sich behutsam auf, griff mit beiden Händen nach oben und zog sich mit letzter Kraft an dem spiegelglatten Fels hinauf. Das Schwindelgefühl kam zurück; er brach in die Knie, als er versuchte, sich im Inneren des mannshohen Stollens aufzurichten.
Dunkelheit umfing ihn. Der Wind war draußen vor der Höhle zurückgeblieben, und es war überraschend warm. Skar wartete, bis der Schwächeanfall vorüber war, stemmte sich vorsichtig hoch und lauschte. Er glaubte Schritte zu hören, war sich aber nicht sicher, und irgendwo weit, sehr weit vor ihm heulte der Sturm wie ein schauriger Chor.
»Yar-gan?« rief er laut. Seine Stimme hallte als verzerrtes Echo von den gekrümmten Gangwänden zu ihm zurück, dann hörte er das Rascheln von Stoff.
»Er gibt uns eine Gnadenfrist«, hörte er Del irgendwo in der Dunkelheit vor sich antworten. Er strengte seine Augen an, aber die Zeit war noch zu kurz, als daß sie sich an das bleiche Schattenlicht hier drinnen hätten gewöhnen können.
»Er spielt mit uns. So wie beim ersten Mal.« Yar-gan tauchte aus der Dunkelheit des Stollens auf, trat neben ihn und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in das grelle Licht, das die Höhle hinter Skar erfüllte. »Wir könnten die Ausfahrt erreichen, ehe er hier ist«, murmelte er.
»Was soll das?« fragte Skar wütend. »Was tust du hier, Yar-gan? Was du vorhast, ist sinnlos!«
»Wir könnten es schaffen«, wiederholte der Sumpfmann, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört. Ein eigenartiger Ausdruck von Spannung lag auf seinen Zügen.
Skar setzte zu einer scharfen Entgegnung an, aber ein weiterer Blick in Yar-gans Augen ließ ihn verstummen. Er wußte plötzlich, daß der Sumpfmann auf alles vorbereitet war, was er sagen könnte, die Antwort auf jede Frage, jedes Argument schon parat hatte, ehe er es aussprechen würde. Statt der wütenden Antwort, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, drehte er sich herum und sah nachdenklich an dem schmalen Felsgürtel entlang, der das Wasser des Hafenbeckens säumte. Die Gestalten der Männer unten auf den Schiffen wirkten winzig wie Spielzeuge. Einige von ihnen sahen zu ihm und Yar-gan hinauf. Ihre Gesichter waren nicht mehr als helle Farbflecke gegen das schwarze Holz der versteinerten Planken. Es war schwer, in dieser gewaltigen Höhle Entfernungen zu schätzen, noch dazu von ihrem erhöhten Standpunkt aus, aber es konnten kaum mehr als zwei Meilen sein.
»Und dann?« Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf das offene Meer hinaus. Der Dronte war von hier oben aus deutlicher zu erkennen. »Willst du schwimmen, oder hoffst du, daß wir dort draußen ein Schiff finden - als Geschenk der Götter gewissermaßen?«
Yar-gan ignorierte seinen beißenden Tonfall. »Die Küste ist unübersichtlich«, antwortete er ernsthaft. »Er kann unmöglich Jagd auf einzelne Männer machen. Wenn wir uns verteilen, dann haben ein paar von uns eine Chance durchzukommen.«
»Und zu erfrieren«, fügte Skar hinzu.
Yar-gan wollte auffahren, aber Skar brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen. »Ich werde nicht mehr weglaufen, Yar-gan«, sagte er ruhig.
Der Sumpfmann starrte ihn an. »Was heißt das?« fragte er lauernd. »Ich habe nachgedacht, Yar-gan. Über vieles.« Skar deutete auf den Dronte. Täuschte er sich, oder war er bereits näher gekommen? »Wir können nicht ewig vor ihm fliehen, weder vor ihm noch vor Helth. Früher oder später wird er uns stellen.«
»Später ist mir lieber«, knurrte Yar-gan. »Diese Höhle ist eine Todesfalle, Skar. Eine einzige Breitseite seiner Feuerkatapulte reicht, sie in einen Vulkan zu verwandeln.«
»Wenn er das wollte, hätte er es schon hundertmal tun können«, widersprach Skar heftig. Er wußte selbst nicht, warum - aber Yar-gans logische Überlegung ließ Zorn in ihm aufsteigen. Dabei spürte er ganz genau, daß es nichts als die ganz persönliche Art des Sumpfmannes war, mit der scheinbaren Ausweglosigkeit ihrer Situation fertig zu werden. Er hatte Angst, und er tat das einzige, was er konnte, um sie zu bekämpfen: er dachte logisch, analysierte ihre Lage und ihre Möglichkeiten und versuchte, einen Ausweg zu finden. Und er war hier, weil er auf seine kalte logische Art eine Möglichkeit gefunden zu haben glaubte. Aber sie war falsch.
»Und was willst du tun?« fragte Yar-gan ruhig.
»Das gleiche wie du«, antwortete Skar. »Warten. Wir bleiben hier und warten.«
»Auf wen?« fragte Yar-gan. »Auf Helth? Auf den Dronte?«
»Auf wen wartest du?«
Yar-gan machte eine ärgerliche Handbewegung. »Auf niemanden, Skar. Ich bin hierher gekommen, um nach einem Ausweg zu suchen. Ich -«
»Hast du ihn gefunden?« unterbrach ihn Skar.
»Nein. Dieser Gang führt ins Nirgendwo. Zurück nach Cor-ty-cor. Aber es gibt viele solcher Stollen. Wir werden einen Weg aus dieser Falle finden.«
»Warum sagst du nicht ihr, Yar-gan«, sagte Skar ruhig. »Das ist es doch, was du meinst. Die Geschichte, die du den Männern erzählt hast, mag sie täuschen, aber mich nicht. Du hast nicht vor, uns zu begleiten.«
Yar-gan starrte ihn an, sagte aber nichts. Er wirkte unsicher.
»Du wartest auf Helth«, fuhr Skar nach einer sekundenlangen Pause fort.
»Und wenn?« Yar-gans Frage klang trotzig. Aber es war gar nicht mehr seine Stimme, und Skar begriff bestürzt, daß es auch nicht mehr Yar-gan war, mit dem er sprach, sondern Del.
»Es wäre ein sinnloses Opfer«, antwortete er. »Sinnlos und dumm dazu. Helth wird es nicht wagen, uns anzugreifen, solange wir zusammenbleiben. Du tust ihm nur einen Gefallen, wenn du dich ihm allein stellst.«
»Glaubst du?« fragte Yar-gan spöttisch.
»Ich weiß es«, entgegnete Skar, plötzlich wieder zornig. »Was glaubst du zu erreichen, wenn du ihm Gelegenheit gibst, uns einen nach dem anderen auszuschalten, du Narr?«
»Vielleicht Zeit«, sagte Yar-gan ruhig. »Vielleicht die Zeit, die ihr braucht.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Entschluß steht fest, Skar. Ich bleibe. Er ist irgendwo in der Nähe, und ich spüre, daß er diesen Weg nehmen wird. Ich werde mich ihm stellen.«
»Er ist stärker als du«, behauptete Skar. »Hast du den Kampf schon vergessen? Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte dich getötet.«
»Das war etwas anderes. Ich war überrascht, und ich hatte keine Gelegenheit, meine Kräfte zu sammeln und einzusetzen. Vielleicht besiegt er mich trotzdem, aber nur vielleicht.«
»Und vielleicht auch nicht«, versetzte Skar. »Aber falls er dich vielleicht doch schlägt, dann bist du vielleicht tot, Yar-gan.«
»Du sprichst nicht mit Del«, antwortete der Sumpfmann trotzig. »Der Tod schreckt mich nicht, Skar. Er bedeutet für mich nicht dasselbe wie für euch.«
Skar schlug zornig die flache Hand gegen die Felswand. »Was du mit deinem Leben machst, ist mir gleich, Yar-gan«, antwortete er aufgebracht. »Aber du bist kein unbeteiligter Zuschauer, der gehen kann, wenn es ihm beliebt. Ich kann es mir nicht leisten, dich zu verlieren. Solange wir beide am Leben sind, haben wir eine Chance. Ich brauche dich! Und ich verlasse mich nicht darauf, daß du vielleicht stärker bist als Helth. Ich will dieses verdammte Monster genauso gerne umbringen wie du, aber wir werden warten, bis sich eine bessere Gelegenheit ergibt.«