»Dazu ist keine Zeit«, widersprach Yar-gan erregt. »Begreifst du denn nicht, Skar? Er hat uns in Ruhe gelassen, solange das Kind noch nicht geboren war, das stimmt - aber was denkst du dir denn, warum ? Weil er uns gebraucht hat, Gowenna, dich und mich. Jetzt wird er kommen und sich holen, was er haben will.«
»Dann erwarten wir ihn«, antwortete Skar wütend. »Aber unten auf dem Schiff, nicht hier.«
»Wovor fürchtest du dich eigentlich, Skar?« fragte Yar-gan. »Um wen hast du Angst? Um mich - oder um Del?« Er lachte, aber der Laut klang fast abstoßend in Skars Ohren. »Del lebt«, fuhr er fort. »Und er wird auch weiterleben, wenn mir etwas zustoßen sollte. Du brauchst keine Angst um ihn zu haben, wenn es das ist, Satai.«
Seine Worte taten weh. Skar starrte in hilflosem Zorn den Sumpfmann an. Für einen Moment war er kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und mit Fäusten auf ihn einzuschlagen. Aber natürlich tat er es nicht. Es wäre genau das gewesen, was der Sumpfmann erreichen wollte. »Geh jetzt!« fuhr Yar-gan fort. »Geh zurück zu Gowenna und deinem Kind und beschütze sie. Ich komme schon allein zurecht.« Skars Hände begannen zu zittern. Mühsam drehte er den Kopf und starrte aus brennenden Augen aufs Meer hinaus. Der Dronte war näher gekommen. Das gewaltige fünfeckige Hauptsegel blähte sich, und Skar konnte die schaumigen weißen Streifen rechts und links seines Rumpfes erkennen, wo die Ruder in raschem Takt ins Wasser klatschten und ihm zusätzliche Geschwindigkeit verliehen. Er kam näher; viel, viel schneller, als Skar geglaubt hatte.
Auch Yar-gan hatte es bemerkt. »Geh jetzt«, sagte er noch einmal. »Wenn du zu lange zögerst, dann wird das, was ich hier tue, umsonst sein. Aber die Schuld daran trifft dann dich!«
Aus dem Stollen wehte ein leises, boshaftes Lachen zu ihnen heraus. Skar erstarrte für eine halbe Sekunde, fuhr dann mit einer blitzschnellen Bewegung herum und riß das Schwert aus dem Gürtel.
Aber Yar-gan war schneller. Seine Hand zuckte hoch, legte sich wie eine stählerne Klaue um Skars Handgelenk und drückte seinen Arm herunter. Gleichzeitig drängte er ihn zurück, auf die Wand und den Ausgang zu. Skar versuchte verzweifelt, ihm Widerstand zu leisten, aber der Sumpfmann schob ihn so mühelos zur Seite, als wäre er ein kraftloses Kind. Er hatte vergessen, wie stark die Bewohner der grünen Hölle Coshs waren.
Erneut ertönte dieses leise, meckernde Lachen, dann hörte Skar Schritte, die irgendwie mühsam klangen und von einem Geräusch begleitet wurden, als würde ein Stück nassen Leders über Felsen geschleift. Ein Schatten erschien vor der gekrümmten Tunnelwand. »Sehr gut«, lobte Helth spöttisch. »Bravo. Es tut mir beinahe leid, daß ich euch nicht länger zusehen kann.« Seine Stimme klang röchelnd und war kaum zu verstehen, und hinter Skars Stirn blitzte die irrsinnige Erkenntnis auf, daß es sich mit zerschnittenen Stimmbändern nicht sehr gut sprach.
»Ich sollte euch mehr Zeit geben«, fuhr der Vede fort. »Vielleicht würdet ihr euch dann gegenseitig umbringen. Aber leider bleibt mir nicht sehr viel Zeit.« Seine Stimme wurde hart. »Und euch auch nicht.«
Skar unterdrückte im letzten Moment einen Schrei, als Helth näher kam und ins Licht trat. Der Vede hatte sich auf grauenhafte Weise verändert, schlimmer, viel, viel schlimmer als beim ersten Mal, als sie ihm wieder begegnet waren. Seine Haut war schwarz und tot, nichts als abgestorbenes Gewebe, von tiefen, zerfransten Kratern zerfurcht und faulig. Dels Shuriken hatte eine grausame Wunde in seinen Leib gerissen und ihn geöffnet; ein handgroßer Fleischfetzen hing herunter wie ein schwarzer Lappen und erzeugte bei jedem Schritt das schreckliche patschende Geräusch, das Skar gehört hatte, und sein Schädel war waagerecht bis in die Mitte gespalten, die Augen leer, blutige blinde Löcher, hinter denen schwarzer Nebel zu wogen schien. Von einem Teil seines linken Arms war das Fleisch gefallen; die Hand und der Oberarm bis zum Ellbogen waren noch erhalten, dazwischen sah Skar nichts als blanken, schwarz gewordenen Knochen. Wieso lebt er noch? dachte er entsetzt. WIESO LEBT ER NOCH!?
Yar-gan atmete hörbar ein, ließ seine Hand los und trat der furchtbaren Erscheinung einen Schritt entgegen, blieb aber sofort wieder stehen. Seine Hände zitterten, und Skar konnte sehen, wie sich seine Muskeln unter dem Stoff seines Mantels spannten. Selbst dieser eine Schritt schien ihn unendliche Überwindung gekostet zu haben. »Daij-djan«, flüsterte er. »Du bist...«
Die grausame Karikatur eines menschlichen Grinsens verzerrte die gespaltenen Lippen des Veden. »Es hat lange gedauert, bis du es gemerkt hast, Bruder«, kicherte er. »Für eine Weile habe ich schon gefürchtet, du würdest unwissend sterben.« Erneut kam seine Art zu reden Skar falsch und völlig unnatürlich vor. Er hatte seine Menschlichkeit nicht nur äußerlich verloren. Das Ding, das ihn beherrschte, versuchte menschliches Verhalten nachzuahmen, aber es gelang ihm nur sehr mangelhaft. Seine Lippen bewegten sich nicht beim Sprechen, die Worte schienen eher irgendwo in seiner Brust zu entstehen als in seinem Kehlkopf.
Helth machte einen Schritt auf den Sumpfmann zu und duckte sich ein wenig. Seine Arme pendelten lose vor dem Körper; die Hände öffneten sich und sahen plötzlich aus wie tödliche Raubvogelklauen. Yar-gan spannte sich. Sein Atem ging plötzlich ganz ruhig. Er wich ein winziges Stück zurück, spreizte leicht die Beine, suchte auf dem unsicheren Boden nach festem Stand und machte seltsame, flatternde Bewegungen mit den Händen vor der Brust.
»Du willst wirklich kämpfen?« fragte Helth spöttisch. »Du weißt, daß du keine Chance hast, einen Kampf gegen mich zu überleben, Bruder. Warum gibst du nicht auf? Und du -« Er hob den Kopf und starrte Skar aus seinen leeren schwarzen Augenhöhlen an, »- Satai? Gebt mir, was ich haben will, und ihr könnt gehen. Euer Leben bedeutet mir nichts.«
Skar erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Mit einer wütenden Bewegung stieß er sich von der Wand ab, packte sein Schwert mit beiden Händen und trat neben den Sumpfmann. »Aber mir«, sagte er leise. »Du -«
Der Stoß kam so schnell, daß Skar die Bewegung nicht einmal sah. Yar-gans Hand traf ihn mit grausamer Wucht gegen die Brust, trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn haltlos gegen die Wand taumeln.
»Verschwinde, Skar«, zischte der Sumpfmann. »Flieh! Ich versuche ihn aufzuhalten!«
Helth schrie wütend auf und warf sich mit einer übermenschlich schnellen Bewegung auf den Sumpfmann. Yar-gan tat so, als würde er zurückweichen, trat plötzlich mit einem überraschenden Schritt zur Seite und ließ den Veden über sein vorgestrecktes Bein stolpern. Seine Linke krachte in Helth' Nacken, während er mit der anderen Hand sein Schwert zog und zu einem tödlichen Hieb ausholte.
Aber sein Gegner war mindestens ebenso schnell wie er. Er stolperte zurück, versuchte aber nicht, den Sturz abzufangen, sondern warf sich im Gegenteil noch weiter nach vorne, kam mit einer eleganten Rolle auf die Füße und gleichzeitig aus der Reichweite von Yar-gans Schwert. Die Klinge zischte wirkungslos durch die Luft.
Der Kampf dauerte nur wenige Sekunden. Skar beobachtete die beiden ungleichen Gegner mit einer Mischung aus Schrecken und morbider Faszination. Er konnte nicht im einzelnen erkennen, was Yar-gan und Helth taten; ihre Bewegungen waren so schnell, daß sie im grauen Dämmerlicht selbst zu huschenden Schatten zu werden schienen. Yar-gan versuchte Helth mit seinem Schwert zu treffen, aber der Vede wich immer wieder im letzten Moment zur Seite oder zurück und schlug die Klinge ein paarmal sogar mit der nackten Hand beiseite. Der rasiermesserscharfe Stahl hinterließ tiefe Schnitte in seinem Fleisch, aber der Vede schien keinen Schmerz mehr zu spüren. Und dann war es vorbei. Helth tauchte mit einer blitzschnellen Bewegung unter einem Hieb Yar-gans hindurch, hämmerte ihm die geballten Fäuste vor die Brust und trat gleichzeitig nach seinem Knie. Yar-gan taumelte, fiel gegen die Wand und rutschte mit haltlos rudernden Armen an dem feuchten Fels zu Boden. Helth schrie; laut, triumphierend und so schrill, daß Skar schmerzhaft die Hände gegen die Ohren schlug, ein Laut wie der Schrei einer übergroßen Grille, nicht wie der eines Menschen. Yar-gan wälzte sich zur Seite; seine Bewegungen waren deutlich langsamer und schwerfälliger als bisher, kaum noch schneller als die eines Menschen, dachte Skar erschrocken. Er stand auf, blieb eine halbe Sekunde taumelnd und nach Atem ringend stehen und hob sein Schwert zu einem weiteren Schlag.