Skar hob die Hände vor den Mund und blies hinein, um die Kälte aus seinen Fingern zu vertreiben. Die SHAROKAAN bewegte sich, nur noch im Schneckentempo vorwärts. Der Wind war vollends zum Erliegen gekommen, als sie in den Kanal eingefahren waren, und die Segel hingen schlaff von den Rahen, nur noch gehalten von dem starren Panzer aus Eis, das sie wie eine glitzernde, halb durchsichtige Haut überzog. Die gesamte Besatzung, selbst die Verwundeten, die noch die Kraft hatten zu stehen und sich hier heraufzuschleppen, hatte zu beiden Seiten an der Reling Aufstellung genommen und stakte das Schiff mit langen, eisenbeschlagenen Stangen und Enterhaken von der Stelle - die einzige Möglichkeit, überhaupt noch Fahrt zu machen. Es gab eine Strömung, aber sie war nicht stark genug, um das schwere Schiff nennenswert zu bewegen, und der Einschnitt war nicht breit genug, um die weit ausladenden Ruder einsetzen zu können.
Sie waren vor über zwei Stunden in den Kanal eingelaufen. Ihr Schwung hatte ausgereicht, sie noch wenige hundert Fuß weiterzutragen, aber seither wurde das Schiff nur von der Muskelkraft der Besatzung bewegt - eine mühsame und kräftezehrende Art, von der Stelle zu kommen, aber die einzig mögliche. Rayan trieb seine Leute unbarmherzig an und verlangte das Letzte von ihnen, aber er griff auch selbst kräftig mit zu und mühte sich wie ein gemeiner Matrose mit der sperrigen Enterstange ab.
Skar drehte sich zum wiederholten Male um und starrte über das Achterdeck. Ihr Vorsprung war zusammengeschrumpft, und der schwarze Mordsegler kam mit jedem Augenblick, den sie länger durch diesen verdammten Kanal krochen, näher. Skar wußte, wie groß das Risiko war - alles hing davon ab, daß sie aus dem Kanal heraus waren, ehe der Pirat an seinem Ende auftauchte und sich querstellen konnte, um eine Breitseite auf sie abzufeuern. Hier, eingesperrt zwischen den glatten, senkrechten Wänden des Eiskanals, gab es keine Möglichkeit, seinen tödlichen Geschossen auszuweichen. Der Kanal war eine Falle, aus der es kein Entkommen gab.
Skars einziger Trost war, daß der Dronte mit Sicherheit die gleichen Schwierigkeiten haben würde wie sie. Selbst er mit seinem geringeren Tiefgang mußte viel Zeit dabei verlieren, das Labyrinth aus dolchspitzen Eisriffen und heimtückischen Fallen zu überwinden, das die Natur vor der Einfahrt errichtet hatte. Vielleicht, sinnierte Skar, ohne jedoch selbst recht daran glauben zu können, tat er ihnen auch den Gefallen und schlitzte sich den Rumpf auf, ehe er nahe genug herankam. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick an den glatten Wänden des Eises emporwandern, die fast zweihundert Fuß senkrecht in die Höhe strebten und sich leicht gegeneinander zu neigen schienen, so daß man hier unten den Eindruck gewinnen mußte, sich am Grunde eines mächtigen gewölbten Tunnels zu befinden, in dessen Zenit eine schnurgerade blaue Linie eingezeichnet war; eine optische Täuschung, die aber trotzdem etwas bedrückend Reales hatte und Skar das Gefühl vermittelte, lebendig begraben zu sein. Das Eis fing die schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf und tauchte das Deck der SHAROKAAN in eine sonderbare, unwirkliche Helligkeit, Licht, das die Segel transparent machte und die Bewegungen der Männer und das sanfte Schaukeln des Schiffes seltsam ruckhaft und abgehackt erscheinen ließ. Skar zog fröstelnd die Schultern zusammen und trat auf der Stelle. Der eisige Biß des Windes war hier drinnen nicht mehr zu spüren, aber dafür strahlten die spiegelnden Wände eine andere Art von Kälte aus, eine Kälte, die weniger seinen Körper als vielmehr seine Seele streifte und etwas darin erstarren ließ. Die sterile, strenge Geometrie des Eistunnels atmete etwas spürbar Abweisendes aus; das Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, der nicht für Menschen geschaffen war und an dem nichts Lebendes etwas zu suchen hatte.
Er versuchte, die bedrückenden Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Und er spürte, daß er mit seinen Empfindungen nicht allein war. Auch die anderen fühlten es. Rayans Männer waren merklich stiller geworden, seit sie in das schweigende Weiß eingedrungen waren. Die Rufe, mit denen sie sich anfangs noch gegenseitig angefeuert hatten, waren nach und nach verstummt. Die Männer arbeiteten jetzt stumm und verbissen, und außer einem gelegentlichen Stöhnen und dem rhythmischen Klirren, mit dem die stählernen Spitzen ihrer Enterhaken in die Wände stießen, herrschte auf dem Schiff eine fast geisterhafte Stille; trotz des gleichmäßigen Klatschens der Wellen und des Ächzens des Rumpfes. Die Geräusche waren bedeutungslos, Illusion, die die wirkliche, tiefer sitzende Stille nicht durchbrechen konnten: dieses Schweigen der Schöpfung, die ihnen auf diese lautlose Art ihre Ablehnung entgegenschrie.
Skar biß sich auf die Lippen und schmeckte salziges Blut, als die spröde gewordene Haut unter der leichten Berührung riß, aber selbst der Schmerz war bedeutungslos und schien kaum bis an sein Bewußtsein zu dringen. Alles um sie herum war Ablehnung. Geht weg! schrie die Stille, und: Geht weg! flüsterte das Klatschen der Wellen. Sie gehörten nicht hierher, sie nicht, das Schiff nicht - nicht einmal der Dronte mit all seiner Fremdartigkeit hatte das Recht, in dieses Reich aus Stille und blauem Licht einzudringen. Mit jähem Mal wußte er, daß es kein Zufall war, daß sie diese Eisinsel hier am Rande der Welt gefunden hatten. Sie waren weit über die Grenzen vorgedrungen, die menschlicher Wissensdurst bisher erforscht hatte, weit über den Teil der Welt, in dem es noch Leben gab. Weiter, als sie gedurft hätten. Nicht einmal in der tödlichen Sandöde der Nonakesh hatte er ein derart starkes Gefühl des Lebensverneinenden empfunden. Es war, als wäre diese schwimmende Eisinsel nicht nur tot, sondern von etwas erfüllt, das Skar in Ermangelung eines besseren Wortes als negatives Leben bezeichnete. Jemand trat neben ihn und berührte ihn an der Schulter. Skar fuhr aus seinen Gedanken hoch und drehte sich mit einer hastigen, beinahe schuldbewußten Bewegung um.
Es war Rayan. Der Freisegler wirkte erschöpft. Sein Gesicht glänzte trotz der Kälte vor Schweiß. »Wenn dein Plan nicht aufgeht, dann fahren wir allesamt zum Teufel«, sagte er übergangslos.
Skar lächelte mit einem Optimismus, der ganz und gar nicht im Einklang mit seinen Gedanken stand. »Es wird klappen. Sieh dich doch um«, entgegnete er mit einer übertriebenen, weit ausholenden Geste, die das Schiff und den gesamten Kanal einschloß. »Hast du je eine bessere Falle gesehen? Wenn er einmal hier drinnen ist, dann können wir mit ihm machen, was wir wollen, Rayan. Hier wäre jeder hilflos, und der Dronte erst recht. Er kann seine Katapulte nicht einsetzen. Es sei denn«, fügte er mit einem nur halb gelungenen Versuch, scherzhaft zu klingen, hinzu, »er könnte um die Ecke schießen.«
»Wer sagt dir, daß er es nicht kann?« murrte Rayan, nickte aber trotzdem. Skars Worte waren im Grunde überflüssig - jeder an Bord hatte während der letzten Stunden das immer quälender werdende Gefühl gehabt, in einer tödlichen Falle zu sitzen. Wer immer diesen kaum fünfhundert Meter langen Kanal beherrschte, konnte ihn gegen eine ganze Flotte verteidigen.
»Es ist eine Falle«, stellte Skar noch einmal fest, mehr, um sich selbst Mut zu machen.
»Wenn er hineingeht«, murmelte der Freisegler. »Der Dronte ist nicht dumm.« Er zögerte, sah nervös über die Schulter zurück und dann wieder Skar an. »Sie sind vielleicht gewissenlose Mörder, aber trotzdem hervorragende Seeleute. Und diese Falle würde selbst ein Kind erkennen.«
»Er wird uns folgen«, sagte Skar überzeugt. »Er muß es einfach, wenn er nicht Gefahr laufen will, uns zu verlieren.«
»Er muß überhaupt nichts«, gab Rayan ungehalten zurück. »Ich an seiner Stelle würde den Teufel tun und mit meinem Schiff in dieses Rattenloch segeln.« Er preßte die Lippen zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen und schlug sich mit der flachen Hand klatschend gegen die Oberschenkel. »Willst du wissen, was ich tun würde? Ich würde mich vor der Zufahrt auf die Lauer legen und in aller Ruhe abwarten. Man kann das Spiel nämlich auch andersherum spielen - du hast vollkommen recht, wenn du glaubst, niemand könnte gegen unseren Willen hier herein. Aber wir kommen genausowenig wieder heraus. Und irgendwann müssen wir es.«