»Ein Sog«, stellte Rayan fest. »Und? Um das herauszufinden, brauchst du nicht deine und meine Zeit zu vergeuden. Siehst du diese Stelle dort?« Er deutete dorthin, wo der Eisbrocken verschwunden war. Das Wasser war dort ungewöhnlich glatt; wie Glas, das sorgsam poliert worden war. »Der See muß irgendwo einen Abfluß haben«, sagte er. »Deshalb ist die Strömung hier auch so schwach - das Wasser fließt beinahe so schnell ab, wie es hereinkommt. Und was soll uns das nutzen?«
Skar zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, gestand er. »Ich weiß nur gerne soviel wie möglich über meine Umgebung. Manchmal kann das sehr nützlich sein.«
»Wir sind soweit«, drang Dels Stimme in ihr Gespräch. Skar nickte, warf einen letzten Blick auf die trügerisch glatte Wasserfläche über dem Sog und streifte mit einer entschlossenen Bewegung den Umhang ab, der ihm bisher Schutz gegen die Kälte gewährt hatte.
Del kam näher und deutete mit einer Kopfbewegung auf das plumpe Heckkatapult, die einzige wirklich weitreichende Waffe der SHAROKAAN, das aus seiner Halterung auf dem Achterdeck entfernt und weiter zur Schiffsmitte hin auf einer provisorischen Rampe aus Balken und Tauen befestigt worden war. Der armlange Stahlbolzen auf der Sehne deutete jetzt nicht mehr auf die Wasseroberfläche, sondern in spitzem Winkel nach oben. Sein Schatten wies wie der Zeiger einer bizarren Sonnenuhr auf die verbrannte Stelle am Heck der SHAROKAAN, wo das Höllenfeuer des Dronte schon einmal gewütet hatte. Wäre Skar abergläubisch gewesen, hätte er es für ein schlechtes Omen gehalten.
»Fertig?« fragte Del.
Skar nickte. Seine Hand glitt nervös über den Griff seines Schwertes. Auf seiner Zunge fühlte er plötzlich einen schlechten Geschmack, und er gestand sich ein, daß er unsicherer war, als er bisher zugegeben hatte. Ihr Plan erschien ihm mit einem Mal gar nicht mehr so narrensicher wie noch vorhin, als er versucht hatte, Rayan davon zu überzeugen. Es waren zu viele Wenns drin, zu viele Spekulationen auf ein Glück, das sie bisher schmählich im Stich gelassen hatte. Plötzlich fielen ihm tausend Dinge ein, die falsch laufen konnten, tausend Umstände, die sie nicht bedacht hatten oder gar nicht hatten wissen können.
Del gab der Bedienungsmannschaft ein Zeichen und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, als die Männer die Winde bedienten und sich die haarfeine Metallsehne mit einem singenden Geräusch spannte. Der Stahlbolzen zitterte. Seine Spitze hob sich ein wenig, und für einen Moment fürchtete Skar fast, daß das improvisierte Gestell, auf dem sie das Katapult festgemacht hatten, der Betastung nicht gewachsen sein könnte. Die Balken knirschten hörbar.
»Jetzt!« befahl Skar.
Einer der Matrosen hob seine Axt und ließ die Schneide auf das Haltetau heruntersausen. Die Sehne entspannte sich mit einem peitschenden Knall. Der Bolzen wurde zu einem flirrenden Schemen, jagte schräg in den Himmel hinauf und grub sich dicht unterhalb der Mauerkrone in das Eis. Ein Hagelschauer aus kleineren Eisbrocken prasselte auf das Schiff herunter, und das Wasser rings um die SHAROKAAN schien zu kochen.
Skar warf dem Schützen einen anerkennenden Blick zu. »Ein guter Schuß«, lobte er, während er mit einem Fuß auf die Reling trat und prüfend an dem Tau zerrte, das der Bolzen mit sich emporgerissen hatte. Es hielt. Die Kraft der Stahlsehne hatte das Geschoß tief in das Eis getrieben. Es würde sein Körpergewicht tragen.
»Einen Moment noch, Rayan.«
Skar hielt mitten in der Bewegung inne, balancierte einen kurzen Augenblick auf der eisverkrusteten Reling und sprang auf das Deck zurück. Auch Rayan drehte sich deutlich verärgert herum und blickte zu Gowenna hinüber, die auf Deck gekommen und gebückt unter der Tür stehengeblieben war. Neben ihr stand eine schmale, in ein dunkelgraues Gewand gekleidete Gestalt. Ihr Gesicht war unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze des Mantels verborgen; die Hände mit einer dünnen silbernen Kette aneinandergefesselt. Eine zweite Kette führte von ihrem Handgelenk zu einem wuchtigen Ring in Gowennas Fingern. Der Anblick ließ eine Welle heißen Zorns in Skar aufsteigen. Was immer Vela getan hatte, es gab keinen Grund, sie wie einen Hund zu behandeln.
Rayan wollte auffahren, aber Skar legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und trat auf Gowenna zu. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er scharf.
Gowenna hielt seinem Blick gelassen stand. »Das wirst du gleich erfahren, Satai«, sagte sie abfällig.
»Ich hoffe es«, mischte sich Rayan ein. »Wir haben im Moment nämlich nicht die nötige Muße, uns zu unterhalten.«
»Vela und ich verlassen das Schiff«, sagte Gowenna kühl.
Rayan blinzelte überrascht. »So?« machte er. »Und wie, wenn ich fragen darf? Wollt ihr schwimmen?«
»Du wirst uns eines deiner Beiboote geben«, antwortete Gowenna. Sie sprach so schnell, als hätte sie sich die Antwort auf seine Frage sorgsam überlegt. »Und ein paar Männer, die uns rudern.«
Rayan ächzte, aber Gowenna gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Es ist zu gefährlich, während des Kampfes an Bord zu bleiben«, fuhr sie fort. »Das Schiff kann in Brand geraten oder sinken - sie wäre verloren, vorne in ihrer Zelle.«
»Deine Besorgnis ist rührend«, sagte Rayan ätzend, »aber sie kommt zu spät, Gowenna. Wir haben keine Zeit, und ich kann keinen Mann hier an Bord entbehren.«
»Ich habe dich für diese Fahrt bezahlt, Rayan«, antwortete Gowenna. Ihre Stimme klang plötzlich schneidend. »Sehr gut bezahlt sogar. Und mit dem Geld hast du auch die Verantwortung für ihr Leben übernommen. Ich werde mit Vela an Land gehen, bis der Kampf vorüber ist. Gib mir ein Boot und zwei Mann, die uns rudern können.« Skar sah, wie sich Rayans Gesicht vor Zorn rötete. »Gowenna hat recht«, sagte er hastig. »Es ist zu gefährlich, wenn sie an Bord bleibt.« Rayan fuhr mit einer wütenden Bewegung herum. »Auf welcher Seite stehst du, Satai?« zischte er.
»Auf der der Ehrwürdigen Mutter«, antwortete Skar ruhig. »Sie hat uns auf diese Reise geschickt, damit wir Vela sicher am Berg der Götter abliefern. Außerdem verlierst du nichts - gib ihr ein, zwei von deinen Männern und die Verletzten mit.«
Rayan schluckte. Aber er schien einzusehen, daß er sich im Moment in der schlechteren Position befand. Natürlich war er der Kapitän des Schiffes und sein Wort hier an Bord Gesetz, ganz egal, was vorher beredet und vereinbart worden war - aber Gowenna hatte recht. Die Errish würde nicht nur keine Hilfe, sondern unter Umständen eine Behinderung sein, wenn es zu einem Nahkampf mit dem Dronte kam. Und er würde sich vor seinen Leuten ins Unrecht setzen, wenn er bei seiner Weigerung blieb. »Gut«, gab er gepreßt von sich. »Zwei Mann, die Verwundeten und Lebensmittel für drei Tage. Aber beeilt euch. Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Skars Blick heftete sich kurz auf den Eisstrand am anderen Ende des Sees. Ein Aufstieg an dieser Seite war sicher ungefährlicher als das, was sie vorhatten, aber auch zeitraubender. Und Zeit war genau das, was sie im Moment nicht hatten. Er griff nach dem Tau, zog es straff und wickelte es sorgsam um Fäuste und Handgelenke.
Rayan wandte sich an den Veden rechts neben sich und wechselte ein paar schnelle Worte mit ihm, die Skar nicht verstand. Der Vede nickte.
»Er wird dich begleiten«, sagte Rayan plötzlich.
Del wollte auffahren, aber Rayan brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Schweigen. »Ich habe unseren Plan ein klein wenig geändert«, sagte er ruhig. »Der Satai bleibt hier, Skar. Dafür wird Brad mit dir dort hinaufgehen.«
Skar schwieg einen Moment. Er war nicht einmal sonderlich überrascht. Irgendwie hatte er die ganze Zeit über gespürt, daß der Freisegler ihm nicht traute. Nicht, daß er glaubte, sie würden ihn verraten. Aber sein Vertrauen in ihre Fähigkeiten war nicht so groß wie das der meisten anderen Männer, die Skar kennengelernt hatte. »Du bist mißtrauisch wie eh und je«, bemerkte er.