Rayan zuckte gleichmütig die Achseln.
»Wir möchten nur verhindern, daß ihr kurzfristig eure Meinung ändert und vielleicht plötzlich Sympathie für die andere Seite entdeckt«, mischte der jüngere der beiden Veden sich bissig ein.
Skars Miene verdüsterte sich. Er wußte, daß der Nordländer nicht wirklich meinte, was er da sagte, sondern die Worte einzig aussprach, um ihn zu reizen, aber er ärgerte sich trotzdem darüber. Vielleicht gerade.
Seltsamerweise rief Rayan den Veden nicht zur Ordnung, wie er es normalerweise getan hätte.
»Ein ehrliches Wort.«
»Ein ehrliches Wort im richtigen Moment«, sagte Helth. »Du und Brad werdet dort hinaufgehen. Del und ich werden den Angriff hier unten mitmachen.«
Skar hob ergeben die Schultern. Rayan schwieg noch immer. In seinen Augen stand ein lauernder Ausdruck. Aber Skar dachte nicht daran, die Auseinandersetzung auf die Spitze zu treiben. Es war kaum der richtige Zeitpunkt für eine Kraftprobe. Und es blieb auch gar keine Zeit für lange Diskussionen. Im Grunde hätte es Skar sogar gewundert, wenn Rayan anders als gerade so reagiert hätte.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, stieg auf die Reling und stieß sich mit einer kraftvollen Bewegung ab.
Er merkte sofort, daß er sich verschätzt hatte.
Das Tau spannte sich, und die Eiswand sprang wie mit einem plötzlichen Satz auf ihn zu. Durch die Länge des Seiles, an dessen Ende er wie das Gewicht eines überdimensionalen Pendels hing, war seine Geschwindigkeit viel zu hoch. Er zog instinktiv die Beine an, spannte die Muskeln und versuchte, den Aufprall abzufangen.
Der Schlag war von grausamer Härte. Ein weißglühender Schmerz explodierte in seinen Knöcheln, pulsierte durch seinen Körper und ließ ihn aufschreien. Für einen Moment lockerte der Schmerz seinen Griff.
Vom Deck der SHAROKAAN ertönte ein vielstimmiger Aufschrei, als Skar ein Stück weit am Seil abrutschte, bis zur Hüfte ins eiskalte Wasser eintauchte, sich am Ende des Seiles drehte, und ein zweites Mal, diesmal mit Schultern und Hinterkopf, mit immer noch großer Wucht gegen die Wand geschleudert wurde. Das Seil schnitt wie ein Messer in seine Handflächen. Der Ruck war so gewaltig, daß er für einen Moment glaubte, die Arme würden ihm aus den Schultergelenken gerissen. Ein neuer, noch schlimmerer Schmerz raste durch seinen Körper und verwandelte seinen Schrei in ein gequältes Aufheulen. Blut floß in seine Augen und verschleierte seinen Blick. Er spürte, wie sich seine Muskeln unter der Anspannung verkrampften und seine Kraft schwand, als wäre irgendwo in seinem Körper eine unsichtbare Schleuse geöffnet worden, durch die seine Lebensenergie hinauspulsierte. Aber er klammerte sich verzweifelt fest, biß die Zähne zusammen und zog trotz der Höllenqualen die Beine an. Er mußte aus dem Wasser heraus. Schon jetzt, nach wenigen Augenblicken, war sein Körper von den Hüften abwärts taub und alles Gefühl aus seinen Beinen gewichen. Er spürte, wie die Kälte in ihn hineinkroch, in ihrem Gefolge eine beinahe wohltuende, verlockende Lähmung führend, wie sie seine Rücken- und Schultermuskeln erreichte und auch sie betäubte. Sein Griff begann sich zu lockern. Mit jeder Sekunde wurde es schwerer, sich am Seil festzuhalten. Aber wenn er abrutschte, war er verloren. An Schwimmen war bei diesen mörderischen Temperaturen nicht zu denken. Er wäre tot, bevor er die ersten drei Züge gemacht hatte.
Skar schloß die Augen, preßte die Kiefer zusammen und zog sich Zentimeter um Zentimeter aus dem Wasser. Seine Beine waren taub und gehorchten seinen Befehlen nicht mehr, so daß sein ganzes Gewicht nun auf Arm- und Schultermuskeln ruhte, und an seinen Füßen schienen Zentnergewichte zu hängen. Das Wasser hielt ihn fest, zerrte mit aller Macht an ihm und versuchte, sein schon sicher geglaubtes Opfer zurückzuholen. Das feuchte Tau gefror in der eisigen Luft beinahe augenblicklich; seine Finger fanden kaum mehr richtigen Halt. Seine Kraft ließ nach. Langsam, aber unbarmherzig rutschte er ins Wasser zurück.
Irgend etwas sauste an ihm vorbei und grub sich splitternd ins Eis, nur wenige Handbreit von seiner Schulter entfernt. Skar drehte mühsam den Kopf und starrte, ohne zu verstehen, was er sah, auf den Axtstiel, der zitternd neben ihm aus dem Eis ragte.
»Halt dich fest«, schrie eine Stimme. Eine zweite Axt zischte heran und blieb vibrierend neben der ersten stecken.
Skar löste mühsam die rechte Hand vom Seil. Seine Finger waren steif und verkrampft, die Hand fühlte sich an wie ein Stück Holz. Er glitt ein weiteres Stück ins Wasser, griff mit einer verzweifelten Bewegung nach dem Beil und zog sich mit letzter Kraft empor.
Er wußte nicht, wie lange es dauerte. Irgendwie schaffte er es, seinen gefühllosen Körper noch einmal aus dem Wasser zu ziehen und sich festzuhalten. Begriffe wie Zeit und Raum wurden unwichtig, und alles, was in seinem Hirn Platz hatte, waren Kälte und Schmerz und der einzige Gedanke, nicht loszulassen. Irgendwie gelang es ihm, auch die andere Hand vom Seil zu lösen und sich auf die beiden Axtstiele hinaufzuziehen und in einer einigermaßen sicheren Haltung sitzen zu bleiben. Der See und das Eis begannen sich um ihn zu drehen, und Schwäche breitete sich wie lähmendes Gift in seinen Adern aus. Ihm wurde übel. Er würgte, kämpfte den Brechreiz nieder und versuchte, auch die Schwäche zurückzudrängen. Es war schwer, unendlich schwer, aber es ging. Das dumpfe Dröhnen in seinen Ohren ebbte allmählich ab, und er verstand die Worte, die ihm vom Schiff aus zugerufen wurden.
»Skar!«
Es war Gowennas Stimme. Er blinzelte, hob die Hand ans Gesicht und fühlte Blut. Der rote Schleier war noch immer vor seinen Augen, und irgend etwas Warmes und Klebriges lief seinen Nacken herunter und erstarrte in der eisigen Luft. Er sah das Schiff wie durch einen wogenden, von roten Streifen durchzogenen Schleier. Gowenna stand inmitten der Besatzung hinter der Reling und gestikulierte aufgeregt zu ihm herüber. »Kannst du mich verstehen?«
Er versuchte zu nicken. Die Bewegung war so schwach, daß man sie drüben wahrscheinlich nicht einmal sah. »Es... geht«, sagte er mühsam. Seine Lippen waren taub und rissen auf, als er sich zwang, sie zu bewegen. Die eisige Wand klebte an seiner Haut fest, und in seinen Adern war kein Blut mehr, sondern ein Strom reißender scharfer Eiskristalle, die ihn von innen heraus zerschnitten.
»Kannst du weiterklettern?« rief Gowenna.
Skar hätte gelacht, wenn er die Kraft noch aufgebracht hätte. Seine Muskeln waren hart wie Holz, und seine Linke schien am Seil festgefroren zu sein. Wahrscheinlich fiel er nur deshalb nicht von seinem provisorischen Sitz herunter, weil sein Körper einfach zu steifgefroren war, um sich überhaupt noch bewegen zu können.
»Halt aus!« rief Gowenna. »Wir holen dich!«
Das Katapult wurde neu geladen und ausgerichtet. Die Männer arbeiteten mit fieberhafter Eile, aber ihre Bewegungen kamen Skar trotzdem langsam und träge vor, und das Schiff begann immer wieder vor seinen Augen zu verschwimmen und schien sich immer weiter zu entfernen.
Ein zweiter Bolzen prallte dicht neben dem ersten gegen die Wand, rutschte klirrend herunter und klatschte ins Wasser. Rayan begann zu schreien und überschüttete die Männer am Katapult mit einem Schwall von Flüchen und Verwünschungen. Das Seil wurde eingezogen und neu aufgewickelt, während die Matrosen das Katapult für einen weiteren Schuß spannten.
Skar beobachtete das Treiben auf dem Schiff ohne sonderliche Anteilnahme. Er mußte all seine Willenskraft aufwenden, um nicht einzuschlafen. Die Kälte wich Stück für Stück aus seinem Körper und wurde von einer tauben, auf eigenartige Weise beinahe wohltuenden Müdigkeit abgelöst. Es war sein sicherer Tod, wenn er jetzt einschlief, das wußte er. Trotzdem fiel es ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer, die Augen offenzuhalten.
Das Katapult entspannte sich mit einem schmetternden Knall. Diesmal saß der Bolzen sicher im Eis, kaum eine Handbreit unter dem ersten. Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt schwang sich mit einer eleganten Bewegung über die Reling der SHAROKAAN, glitt dicht über der Wasseroberfläche auf ihn zu und begann noch während des Sprunges am Seil emporzuklettern. Offensichtlich hatte der Mann aus seinem Fehler gelernt.