Wieder vergingen Minuten; Zeit, in der es Skar immer schwerer fiel, seinen Geist gegen die dunkle Woge hinter seiner Stirn zu behaupten. Die Schwingungen des Seiles neben ihm wurden länger, als der Mann mit kraftvollen Bewegungen daran heraufkletterte.
»Halt aus!« brüllte Rayan. »Brad läßt dir ein Seil herunter!«
Skar wollte nicken, aber selbst dazu fehlte ihm die Kraft.
Von oben ertönte für eine Weile ein hektisches Klirren und Hämmern; Eis rieselte herab und ließ unter ihm das Wasser aufspritzen. Skar zerbrach sich eine Weile den Kopf über die Ursache des Geräusches, aber seine Gedanken führten einen irren Tanz auf und weigerten sich, in geordneten Bahnen zu laufen. Trotzdem klammerte er sich daran fest, lauschte auf jeden Laut, jede Nuance, nur um nicht einzuschlafen.
»Das Seil, Skar!«
Wieder Gowennas Stimme. Er verstand die Worte, aber es war so schwer, ihren Sinn zu begreifen. Er war so müde. Alles was er wollte, war schlafen; die Augen schließen und der verlockenden Wärme nachzugeben. Aber er durfte es nicht. Nicht jetzt.
»Skar! Nimm das Seil! Die Schlaufe!«
Diesmal glaubte er einen Unterton von Verzweiflung in ihren Worten zu hören. Aber sie mußte trotzdem noch vier- oder fünfmal rufen, ehe Skar endlich reagierte. Mühsam hob er den Kopf und blinzelte nach oben. Die Sonne stand als lohender Ball über dem Rand des Kraters. Ihr Licht brach sich in der schimmernden Eiskante und blendete ihn, gaukelte ihm Schatten und Bewegung vor, wo nur eisige Starre war. »Das Seil, Skar!« Wieder diese Stimme. Er blinzelte, zwang sich, in das regenbogenfarbige Licht zu sehen und drehte mühsam den Kopf.
Neben ihm baumelte eine Seilschlaufe. Er griff ungeschickt danach, verfehlte sie und wäre um ein Haar von seinem improvisierten Sitz gefallen. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, sie mit starren Fingern zu ergreifen und ungeschickt über Kopf und Schultern zu streifen.
Von oben wurde das Seil angezogen. Die Schlaufe zog sich zusammen und schnitt schmerzhaft wie ein glühender Draht in seine Haut. Er bekam kaum noch Luft. Das Seil spannte sich, und Skar wurde unsanft in die Höhe gerissen. Sein Körper pendelte wild hin und her. Er versuchte, sich mit den Händen abzustützen und wenigstens die schlimmsten Schläge aufzufangen, war aber trotzdem schon nach Sekunden von einer Unzahl von Prellungen und blutigen Schürfwunden übersät. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen, aber gleichzeitig war er beinahe dankbar dafür, denn er zerriß die schwarze Decke, die sich über sein Bewußtsein legen wollte. Wie ein Ertrinkender griff er danach, zog sich an ihm entlang wie an einer dünnen, brennenden Rettungsleine, klammerte sich an die letzte Möglichkeit, nicht das Bewußtsein zu verlieren und endgültig in den drohenden Abgrund zu fallen: Bewußtlosigkeit und Schlaf, denen der Tod folgen würde.
Der Aufstieg dauerte nicht lange. Schiff und Meer sackten unter ihm weg, und schon nach kurzer Zeit tauchte die Kante der Eismauer vor ihm auf; dann griffen zwei kräftige Hände unter seine Achseln und zerrten ihn vom Abgrund weg. Dunkle Augen blickten besorgt aus einem sonnengebräunten Gesicht auf ihn herab.
»Bleib ganz ruhig liegen«, sagte Brad. Seine Stimme klang dunkel und rauh; anders, als Skar sie vom Schiff her in Erinnerung hatte. Man spürte, daß er nicht viel sprechen wollte. Er musterte Skar besorgt, streifte dann mit einer entschlossenen Bewegung seinen Fellmantel ab und breitete ihn über Skar aus. »Warte einen Moment.«
Skar drehte mühsam den Kopf. Der Vede hatte eine Anzahl stählerner Haken in das Eis getrieben und eine Art primitiven Flaschenzug daran befestigt: die Hammerschläge, die er unten gehört hatte. Jetzt griff er nach dem Tau und warf es in die Tiefe. »Er lebt!« schrie er mit vollem Stimmaufwand. Skar hörte keine Antwort von unten, aber Brad wandte sich mit einem zufriedenen Nicken um und kam zu ihm zurück. Seine Gestalt verschwamm vor Skars Augen, und seine Stimme klang nach Kälte und Eis.
»Du darfst nicht einschlafen«, sagte Brad warnend. »Wenn du einschläfst, dann stirbst du.« Er sah kurz auf und lächelte rasch und flüchtig. »Das Kunststück, das du da zum besten gegeben hast, war nicht besonders schlau«, sagte er. »Ich habe euch Satai eigentlich immer für intelligenter gehalten. Ich muß mich getäuscht haben.«
»Und ich«, gab Skar mühsam zurück, »habe immer geglaubt, ihr Veden wäret eingebildete Gimpel. Ich scheine mich ebenfalls getäuscht zu haben.«
Brad stutzte, starrte ihn einen Herzschlag lang verwirrt an und lachte plötzlich, schallend und ausdauernd. »Eins zu null für dich, Skar. Man sollte einen Satai doch nicht unterschätzen. Wenigstens mit Worten kannst du umgehen«, fügte er mit gutmütigem Spott hinzu. Das Seil in seinen Händen ruckte zweimal hintereinander. Brad wandte sich um, trat wieder an die Kante und begann etwas mit Hilfe des Flaschenzuges heraufzuziehen. Wenige Augenblicke später hievte er ein umfangreiches, in Decken und Felle verschnürtes Paket über die Kante, hob es mit einem Ruck hoch und trug es zu Skar hinüber. »Zieh dich aus«, sagte er, während er das Bündel öffnete und seinen Inhalt durchwühlte.
Skar stemmte sich mühsam hoch und begann, Harnisch und Lendenschurz abzulegen. Seine ungelenken Finger ließen jeden Handgriff zu einem mühsamen, schmerzhaften Abenteuer werden, aber er schaffte es. Nach ein paar Augenblicken hockte er nackt und frierend neben dem Veden.
Brad reichte ihm eine schmale tönerne Flasche. »Hier«, sagte er. »Reib dich damit ein. Aber gründlich.«
Skar griff nach der Flasche und machte sich unbeholfen am Verschluß zu schaffen. Der Vede sah ihm eine Weile amüsiert dabei zu, ehe er ihm wortlos die Flasche aus der Hand nahm und den Korken entfernte. Er goß Skar etwas von ihrem Inhalt über die Schultern und begann die Flüssigkeit methodisch zu verreiben. Sie brannte wie Feuer, aber Skar fühlte sich auch fast augenblicklich besser. Eine Woge wohltuender Wärme floß durch seinen Körper; gleichzeitig begann seine Haut zu schmerzen, als würde sie ihm in Streifen vom Leib gerissen.
»Was ist das?« fragte er.
Brad träufelte eine weitere Handvoll der übelriechenden braunen Brühe auf ihn und ließ seine Hände mit geübten massierenden Bewegungen über seinen Rücken kreisen. »Nashtan«, antwortete er. »Ein Gemisch aus verschiedenen Ölen und Pflanzensäften. Wir benutzen es, wenn wir bei niedrigen Temperaturen ins Wasser müssen. Es legt sich wie eine zweite Haut um dich und hindert deine Körperwärme daran, zu entweichen. Wie eine Decke, weißt du? Nur wirksamer.« Skar zog eine Grimasse. »Ihr hättet mir vorher sagen können, daß es so etwas gibt.«
Brad grinste. »Niemand hat geahnt, daß du baden wolltest.«
Skar war gerade dabei, etwas darauf zu erwidern, aber Brad schlug ihm in diesem Moment so kräftig zwischen die Schulterblätter, daß er stöhnend in die Knie brach und erst einmal sekundenlang nach Luft rang. Als er wieder zu Atem gekommen war, drückte ihm der Vede die Flasche in die Hand und machte eine auffordernde Bewegung. »Mach allein weiter. Die Bewegung wird dir guttun. Du mußt das Zeug gründlich einmassieren, wenn es helfen soll. Aber vergiß nicht, es hinterher wieder abzuwaschen. Sonst erstickst du.«
Seine Worte erinnerten Skar an irgend etwas, aber er war zu müde, um den Gedanken weiter zu verfolgen. Gehorsam begann er sich von Kopf bis Fuß mit der zähen Flüssigkeit einzureihen. Die versprochene Wirkung stellte sich fast augenblicklich ein, wenn sie wahrscheinlich auch weniger auf das Öl als auf die Bewegung zurückzuführen war, die er seinen schmerzenden Muskeln aufzwang. Die Lähmung wich allmählich aus seinen Gliedern und wurde von kribbelnden, stechenden Schmerzen abgelöst, winzigen glühenden Nadeln, die tief in sein Fleisch stachen und die Starre daraus vertrieben. Als er fertig war, kauerte er sich zusammen, schlug die Arme um den Oberkörper und verkroch sich unter Brads Umhang.