Zwischen den buschigen Brauen des Freiseglers entstand eine steile Falte. »Du hast Wache«, sagte er leise. Rayan war kein Mann großer Worte. Während der letzten Tage war seine Art zu reden noch knapper als gewöhnlich geworden, und wenn er überhaupt sprach, dann kam er ohne Umschweife oder verzierende Schnörkel direkt zur Sache.
»Möglich«, antwortete Skar trotzig. »Aber ich pflege Befehle nur dann zu befolgen, wenn ich ihren Sinn zu erkennen vermag.«
Seine rüde Antwort tat ihm fast sofort wieder leid. Er hatte keinen Streit mit Rayan; im Gegenteil. Aber die Stimmung an Bord war gereizt, und er machte da keine Ausnahme. Schließlich war auch er nur ein Mensch.
Zu seiner Überraschung nahm Rayan die Worte hin, ohne mehr als ein leises Stirnrunzeln als Zeichen seiner Mißbilligung zu äußern. »Skar hat recht«, sagte Gowenna. »Eine Wache hat nur dann Sinn, wenn es etwas zu bewachen gibt. Es hat nicht sehr viel Sinn, seine Kräfte damit zu verschleißen, daß man dem Sturm zusieht und die Hagelkörner zählt. Es wäre klüger, wenn du deine Leute für den Kampf schonst.«
Der Vede wollte auffahren, aber Rayan brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zur Ruhe. Er lehnte sich zurück, musterte Gowenna mit einem schwer zu deutenden Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. In seiner Stimme schwang ein spöttischer Ton, als er antwortete. »Es wird keinen Kampf geben«, sagte er ruhig. »Gegen Brandgeschosse kämpft es sich schlecht.«
»Wie lange wird es noch dauern, bis sie uns einholen?« fragte Skar hastig, als er sah, wie sich Gowennas Gesicht vor Ärger verdüsterte. Auch sie war reizbarer geworden. Schon eine spöttische Entgegnung wie die Rayans konnte genügen, sie aus der Haut fahren zu lassen. Und das letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten, war ein Streit zwischen einem von ihnen und Rayan oder seinen Veden. Sie waren Gäste an Bord, aber - das hatte er sehr schnell begriffen - keine willkommenen, sondern allerhöchstens geduldete Gäste.
Rayan zuckte mit den Achseln, beugte sich vor und griff nach der ausgefransten Zeichenfeder, die vor ihm lag, um damit zu spielen. Ihre Spitze hinterließ eine Reihe unregelmäßiger dunkler Tintenflecke auf der Tischplatte.
»Einen Tag«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Allerhöchstens zwei - wenn wir Glück haben und unser Tempo halten können, heißt das. Vielleicht auch weniger«, fügte er mit einem lakonischen Achselzucken hinzu. »Niemand weiß genau, wie weit ihre Katapulte schießen. Aber wir werden es sicher bald erfahren.«
»Zumindest weiter als unsere Pfeile«, sagte Gowenna. Sie fuhr plötzlich herum, starrte Skar an und schlug die Faust in die geöffnete Linke. »Der Gedanke, mich wie ein Stück Vieh abschlachten zu lassen, macht mich krank«, stieß sie hervor.
Skar erwiderte ihren Blick gelassen. Der unausgesprochene Vorwurf in ihren Worten entging ihm keineswegs, aber er antwortete nicht darauf. Er hatte es aufgegeben, mit Gowenna zu streiten. Weder über dieses noch über irgendein anderes Thema. Sie war nicht mehr die Frau, die er in Ikne kennengelernt hatte. Schon lange nicht mehr. Ihr Gesicht war nicht das einzige, was zerstört war. Der Atem des Drachen hatte auch ihre Seele verbrannt.
»Ich will wenigstens einen von diesen Halunken mitnehmen, ehe es mich erwischt«, fuhr sie nach sekundenlangem Schweigen fort. »Die Gelegenheit hast du verpaßt«, sagte der Vede halblaut.
Skar sah alarmiert auf. Veden galten schon im allgemeinen als schweigsam und verschlossen, und die beiden schienen sich ihrem Dienstherrn noch mehr angepaßt zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, daß einer von ihnen während der ganzen Fahrt mehr als zehn zusammenhängende Worte geredet hätte. Aber er hatte auch nicht viel Kontakt mit ihnen gehabt. Noch mehr als Rayan und seine Männer mieden sie seine und Gowennas oder Dels Nähe, gingen ihnen unauffällig, aber konsequent aus dem Weg und beschränkten sich darauf, auf eine direkte Frage mit einem Kopfnicken oder einer Geste zu antworten. Um so mehr überraschten ihn jetzt die Worte des Veden; nicht so sehr, was er sagte, sondern wie er es tat. Seine Stimme vibrierte beinahe unhörbar, und seine Haltung war nur scheinbar entspannt und drückte in Wahrheit Aggressivität und Wut aus, Regungen, die Skar an dem Veden noch nie zuvor bemerkt hatte.
»Du hättest über Bord springen und den Dronte entern können, als er nahe genug war. Vielleicht hätte uns das einen größeren Vorsprung verschafft.«
»Helth!« sagte Rayan scharf.
Der Vede fuhr zusammen, sah Rayan für die Dauer eines Lidschlages mit undeutbarem Ausdruck an und wandte sich ab. Sein Gesicht erstarrte wieder zu einer unbeweglichen Maske. Für einen Moment erinnerte er Skar an Gowenna - jene Gowenna, die in der flammenden Hölle Combats verbrannt war, nicht die, die neben ihm saß.
Skar sah an der Reaktion auf Gowennas Zügen, daß es in ihr brodelte. Ihre Hand glitt zum Gürtel und krampfte sich um die leere Schwertscheide.
»Du warst dabei, die Karte zu studieren?« fragte er hastig, um die Situation zu entspannen. Die Stimmung an Bord hatte sich während der letzten drei Tage merklich verschlechtert, und er spürte, daß nur noch ein winziger Anlaß notwendig war, um das Schiff wie ein Pulverfaß explodieren zu lassen. Ihr Verhältnis zu den Veden war schon zu Beginn der Reise nicht gerade gut gewesen, besonders Gowenna begegnete den beiden Nordländern mit kaum verhohlener Feindschaft, der gleichen eifersüchtigen Feindschaft, die sie auch ihm anfangs entgegengebracht hatte und die wohl noch immer irgendwo in ihr schlummerte. Aber es war noch etwas anderes hinzugekommen, etwas, das zuvor in ihrem Wesen fehlte und ihr vielleicht einen letzten Rest von Menschlichkeit beließ. Verbitterung. War sie vorher nur von Mißtrauen und einer geradezu grenzenlosen Wut auf die gesamte Menschheit erfüllt gewesen, so war jetzt auch noch Haß hinzugekommen. Selbst Skar ertappte sich in letzter Zeit immer öfter dabei, daß er beinahe so etwas wie Furcht vor Gowenna verspürte. Eine Furcht, die durch den Anblick ihres verbrannten Gesichtes nur noch vertieft wurde. Und die drohende Gefahr hatte die aufgestauten Ängste noch verstärkt. Rayan schenkte ihm einen raschen, dankbaren Blick, der ihm zeigte, daß er seine Absicht durchaus verstanden hatte, und nickte. »Das habe ich. Aber es ist reine Zeitverschwendung.« Er deutete auf die ausgebleichte Karte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Fett, Schmutz und große, bräunliche Flecken, wo das Pergament ausgetrocknet und brüchig geworden war, verunzierten ihre Oberfläche. Die Ränder waren unregelmäßig vor langer Zeit einmal aus einer weitaus größeren Karte herausgerissen worden. Die Tinte war längst verblichen und die Schriftzeichen für den, der nicht sowieso wußte, was sie bedeuteten, unleserlich.
Rayan tippte mit dem Zeigefinger auf eine gestrichelte Linie, die Skar mit einiger Phantasie als die Küste des Drachenlandes erkannte. »Wir sind hier losgesegelt«, erklärte er. »In Anchor. Und hier« - er bezeichnete einen Punkt dicht daneben, ohne daß Skar klar wurde, wieso er in diesem unleserlichen Wirrwarr aus Strichen und Linien und verschmiertem Dreck irgend etwas erkennen oder gar ihre Position bestimmen konnte - »sind wir auf den Dronte gestoßen. Von dort aus sind wir ununterbrochen nach Nordwesten gesegelt und müßten uns jetzt ungefähr...« Er zögerte, fuhr mit der Fingerkuppe über den Rand der Karte hinaus und bezeichnete eine Stelle zwischen der Tischkante und dem Rand des Blattes, »...hier befinden.«
»So weit?« zweifelte Skar.
Rayan nickte. »Eher weiter. Tausend Meilen, schätze ich.«
Rayan verzog beleidigt das Gesicht. »Vielleicht sind es auch nur achthundert« schränkte er ein. »Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Dieser verdammte Sturm hat uns weit vom Kurs gebracht. Ich weiß nicht, wie weit er uns von der Küste weggetrieben hat.«
»Könnt ihr Seeleute nicht die Position anhand der Sterne bestimmen?« fragte Gowenna.