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»Auf jeden Fall zu weit«, sagte Gowenna nach einer Ewigkeit. »Wir müssen rasten.«

»Und wo? Du wirst fünfzig Leichname finden, wenn du sie hierauf dem Eis schlafen läßt.«

Gowenna starrte einen Moment blicklos in den weißen, unberührten Schnee, der sich endlos vor ihnen ausbreitete. Sie blieb stehen, sah sich noch einmal um und deutete dann mit einer fordernden Geste auf Rayans Fernrohr, das noch immer in seinem Gürtel steckte. »Gib es mir.«

Skar reichte ihr das Glas. Gowenna zupfte umständlich an den wollenen Lappen, die sie wie alle anderen zum Schutz vor der Kälte um ihre Hände gewickelt hatte, hauchte mehrmals auf die Linse und versuchte sie mit einem Zipfel ihres Umhanges von verkrustetem Eis und Rauhreif zu befreien. Ihr Atem gefror fast sofort zu einer neuen glitzernden Schicht, aber sie bekam das Glas wenigstens notdürftig frei. Lange Zeit starrte sie hindurch, schwenkte es hin und her und suchte die Ebene bis zu den Bergen methodisch ab. Auf ihrem Gesicht lag ein angespannter Ausdruck. Ihre Lippen preßten sich zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen, und ihre Hände umklammerten das Glas fester, als nötig gewesen wäre. So fest, daß es schmerzen mußte. Skar hatte das Gefühl, daß sie nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau hielt. Schließlich setzte sie das Glas ab und deutete nach Norden, fast im rechten Winkel fort von ihrem bisherigen Kurs. »Dort.«

Skar griff mit tauben Fingern nach dem Fernrohr und starrte angestrengt in die angegebene Richtung. Er sah sofort, was Gowenna entdeckt - oder wiedergefunden - hatte: Das Eis war, nicht viel weiter als eine Meile entfernt, entlang eines gezackten, allmählich breiter werdenden Risses aufgebrochen und an seinem Ende zu einem flachen Buckel hochgetürmt, kantige Schollen, die unter dem Druck der ungezählten Tonnen Eis, die sich dort aneinandergerieben hatten, über- und aufeinandergeschoben worden waren. Der frische Schnee hatte an seiner rechten Seite eine fast mannshohe Verwehung gebildet, die den Hügel wie ein sanft gerundeter Hang zur Meerseite hin abschirmte. Der Sturm blies pulverigen Schnee in einer dünnen, durch die große Entfernung fast schwerelos wirkenden Wolke über die Anhäufung zermalmter Eisschollen.

Skar setzte das Glas ab, schob es wieder unter seinen Gürtel und nickte. Jetzt, als er einmal wußte, wonach er zu suchen hatte, konnte er den Riß und den Eisbuckel an seinem Ende auch mit bloßem Auge erkennen. Er widersprach nicht, als Gowenna sich umdrehte und den Männern mit erhobener Stimme befahl, in nördlicher Richtung weiterzugehen. Eine Meile konnte eine lange Strecke sein für einen Mann, der am Ende seiner Kräfte war. Aber vielleicht fanden sie dort drüben Schutz vor dem unablässig heulenden Wind und der eisigen Kälte. Wieder wechselte er sein Bündel auf die andere Schulter, aber es half nichts. Die Last schien mit jedem Wechsel schwerer zu werden, und er spürte die scharfkantigen Schalen der Caba-Nüsse - alles, was sie an Nahrung mitgenommen hatten - wie winzige stumpfe Messerklingen durch den Stoff hindurch. Seine Schultern fühlten sich wund an, als wären sie zerschnitten, und für einen bangen Moment schien die Ebene vor seinen Augen zu verschwimmen. Er wankte, machte einen schnellen Schritt und fand sein Gleichgewicht wieder. Die Schwäche kam nicht allein von der Anstrengung der letzten Tage, das wußte er. Sie war vielmehr Folge des gnadenlosen, kräftezehrenden Kampfes, der tief in seinem Inneren tobte. Das Drängen wurde stärker, und wenn er in sich hineinlauschte, dann konnte er die dumpfe, wispernde Stimme jetzt ununterbrochen hören. Er wußte, daß es dunkle und gefährliche Geheimnisse waren, die sie ihm zuflüsterte. So wie Gowennas Haß mit jedem Meter, den sie sich dem Gebirge näherten, heller zu lodern schien, so gewann auch sein Dunkler Bruder mit jedem Schritt an Kraft. Je schwächer er selbst wurde, desto stärker wurde er. Die Meile war mehr als eine Meile, und der Eisbuckel war kein Buckel, sondern eine mächtige, zwanzig Fuß hohe und mehr als fünfmal so breite Masse zerborstener, gesplitterter Eisschollen, die sich wie ein künstlicher Berg aus der Ebene erhob; Eis, das zermalmt und mit Urgewalt aus der Tiefe der Erde herausgepreßt worden war. Der Sturm nahm an Kraft zu und zerrte an ihren Haaren und Kleidern, und sein Heulen klang zornig, als ahne er, daß ihm seine sicher geglaubten Opfer doch noch entkommen sollten. Sie näherten sich der Erhebung in einer lang auseinandergezogenen, unregelmäßigen Kette. Skar sah, daß Gowennas Wahl gut gewesen war: Der Buckel war nur von dieser Seite glattgeschliffen vom Wind und flach - zum Gebirge hin war das Oval durchbrochen; Teil einer schimmernden, von der Hand der Natur errichteten Kuppel aus wasserklarem Eis, zur Hälfte eingestürzt. Schnee und neu hinzugekommenes Eis hatten den entstandenen Hohlraum - mal wie eine dünne glitzernde Haut den ursprünglichen Konturen der Wände folgend, mal willkürlich schimmernde Blöcke und Skulpturen, messerscharfe Grate und kleine, tödliche Sperren aus nadelspitzen eisigen Dolchen bildend - in ein bizarres Labyrinth aus Höhlen und Gängen verwandelt, in dem sie Schutz vor dem Wind und wohl auch vor der schlimmsten Kälte finden würden.

Die Männer taumelten mit letzter Kraft in den Schutz der Eismasse und ließen sich erschöpft zu Boden sinken. Manche errichteten einfache Lager aus Decken, andere begnügten sich damit, den Kopf auf ihrem Bündel zu betten, oder schliefen auch einfach auf dem nackten Boden, eine kleine Erhebung, einen Klotz aus Eis oder auch den eigenen Arm als Kissen.

Skar protestierte diesmal nicht. Wahrscheinlich würden nicht alle von denen, die jetzt einschliefen, wieder aufwachen. Aber er war machtlos dagegen. Sie hatten kein Holz, um Feuer zu machen, und nicht genügend Decken und Kleider, um sich auf andere Weise wirksam gegen die Kälte zu schützen. Nur die, die noch die Kraft hatten, wieder aufzustehen, würden auch die Berge erreichen.

Er war so müde wie irgendeiner der Männer, aber er begnügte sich damit, für einige kurze Augenblicke sitzen zu bleiben und sich auszuruhen. Dann stand er erneut auf und drang gebückt und vorsichtig tiefer in das eisige Labyrinth ein. Die gewaltigen klaren Blöcke schützten sie wie ein natürlicher Schild gegen den heulenden Wind; verglichen mit den Temperaturen draußen war es hier drinnen beinahe warm. Schattiges Halbdunkel hüllte ihn ein, als er, vorsichtig den Haifischgebissen und Eisdolchen ausweichend, die aus Wänden und Decke wuchsen, noch tiefer in das Labyrinth aus blitzendem Weiß hineinging, das die übereinandergeschichteten Eismassen gebildet hatten. Er durchquerte einen großen, zur Hälfte von bizarr wuchernden Kristallblumen und Eisgewächsen erfüllten Raum, bückte sich unter einem scharfkantigen Block hindurch und gelangte in eine seltsam geometrisch wirkende Art Halle.

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, aber als es soweit war, war er nicht überrascht.

Die Kuppel dieses Raumes war künstlich.

Die Erkenntnis hätte ihn erschrecken müssen, aber sie tat es nicht. Er war zu müde, zu abgestumpft - und vielleicht hatte er es auch erwartet.

Und die Kuppel war alt, vielleicht nur ein kleiner Teil eines ehemals viel größeren Baues, der von Wind und Zeit zerstört und bis auf diesen kümmerlichen Überrest abgeschmirgelt worden war. Es war nicht zu erkennen, was in seiner Umgebung künstlich und was aus natürlichem Eis nachgewachsen war. Manche Linien waren zu gerade, um gewachsen zu sein, andere Formen zu bizarr, um von der Hand eines denkenden Wesens erschaffen worden zu sein.