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Helth schüttelte auch diesmal den Kopf, als hätte Skar den Gedanken laut ausgesprochen, lächelte traurig und ging weiter. Seine Gestalt verschmolz mit den tanzenden Schatten der Dämmerung.

Auch Skar löste sich nach kurzem Zögern von seinem Platz und schleppte sich weiter. Das Eis knirschte unter seinen Stiefeln, und tief unter dem milchigen Weiß glaubte er die Konturen von Gebäuden und Straßen zu erkennen, obwohl das Licht dazu nicht ausgereicht hätte, selbst wenn es so gewesen wäre, glaubte für einen Moment, das dumpfe Raunen von Stimmen zu hören, Lachen, Schreien, Rufen, die Geräusche der Wesen, die einmal hier gelebt hatten, bevor der Tod seine weiße Hand über dieses Land legte. Dels Worte fielen ihm ein: wenn sie jemals gelebt hatten.

»Das habe ich nicht gemeint, Satai«, sagte Helth plötzlich. Skar sah, beinahe erschrocken, auf und bemerkte erst jetzt, daß der Vede erneut stehengeblieben war und auf ihn wartete. Jetzt knüpfte er an seine letzten Worte an, als wäre dazwischen niemals eine Pause gewesen. »Sie brauchen Schlaf und Wärme, aber was sie noch dringender brauchen, sind ein paar Worte von dir.«

»Ein paar Worte«, wiederholte er tonlos. Noch ein paar Lügen? Wieder glitt sein Blick an der senkrechten schwarzen Wand vor ihnen empor, und wieder fragte er sich, ob es wirklich Berge waren, und wenn, ob sie nicht nur die Gipfel eines gewaltigen, zerklüfteten Gebirges sahen, die Häupter mächtiger steinerner Riesen, deren Leiber unter einer vielleicht meilenhohen Eisschicht begraben lagen. Da und dort glaubte er eine Linie zu erkennen, die zu gerade, eine Kante, die zu stark geglättet, eine Rundung, die zu perfekt war.

Helth schwieg, wich aber nicht mehr von seiner Seite. Sie schleppten sich weiter, tiefer in die zerrissenen Flanken der Eisbarriere hinein und gleichzeitig höher. Der Wind gewann an Kraft, als es später wurde, und die Dämmerung schien endlos zu dauern. Das Eis fing das schwache Licht der Sonne auf und reflektierte es, so daß es aussah, als lodere das Land in dunkler, roter Glut. Die Felsen wurden nach und nach zu gewaltigen finsteren Schatten, den Mauern eines tödlichen Labyrinths, aus denen sie keinen Ausweg mehr finden würden, und die Dunkelheit ließ Spalten und Risse, denen sie noch vor wenigen Augenblicken hätten ausweichen können, zu todbringenden Fallgruben werden, die warnungslos vor ihnen aufklafften. So wie dieses Land tot war, schienen die Berge plötzlich zu eigenständigem Leben erwacht zu sein: Giganten, die von einem bösen, lauernden Geist beseelt waren, der alles in seiner Macht Stehende tun würde, sie zu vernichten. Irgendwo in der Dunkelheit vor Skar erscholl ein spitzer abgehackter Schrei, gefolgt von einem dumpfen Schlag und einem lang anhaltenden Bersten und Poltern.

Neunzehn, dachte er. Er versuchte vergeblich, die Laute, die er gehört hatte, mit dem Bild eines Menschen in Zusammenhang zu bringen, aber es gelang ihm nicht. Er war abgestumpft, unfähig, noch irgend etwas zu empfinden, und auch das war eine Auswirkung dieses Landes, der Atem des Todes, der wie eine drückende Last über allem lag. Er tötete die Sinne. Erst die Gefühle, die Empfindungen, dann würde er vielleicht aufhören, Schmerzen zu fühlen. Zum Schluß würde seine Seele sterben und dann, kurz danach, sein Körper. Alles wurde irreal, verschwamm, und für einen kurzen Moment hatte er Mühe, sich darauf zu besinnen, wo er war.

Jemand berührte ihn an der Schulter, und er wußte, noch bevor er den Kopf wandte, daß es Del war. Wie Helth war der junge Satai den ganzen Tag über nicht aus seiner Nähe gewichen, hatte sich aber trotzdem im Hintergrund gehalten.

»Du bist krank, Skar«, sagte Del sanft.

Skar schlug seine Hand mit einer übertrieben heftigen Bewegung zur Seite und zog eine Grimasse. »Das bin ich nicht«, verneinte er rauh. Seine Stimme zitterte.

»Du brauchst Ruhe«, widersprach Del, ohne seine Worte zu beachten. »Du bist nicht so stark, wie du glaubst. Nicht mehr.«

Es fiel Skar schwer, Dels Worten zu folgen. Wieder begann das Bild vor seinen Augen zu verschwimmen, und er mußte sich an der Schulter des jungen Satai festhalten, um nicht auf dem glatten Boden das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen. Del hob die Hand und berührte ihn im Gesicht. »Du hast Fieber«, stellte er fest. Seine Finger fühlten sich kühl und trocken an; wie Schlangenhaut. Es waren nicht Dels Finger, die nicht in Ordnung waren, sondern er. Aber die Berührung gab ihm auch Kraft, beinahe, als hätte Del ihm damit etwas von seiner Jugend und Stärke übertragen.

»Einer der Freisegler hat eine Höhle entdeckt«, sagte Del. »Wir können die Nacht dort verbringen.«

Skar nickte stumm. Er hatte nicht mehr die Kraft zu widersprechen. Del ergriff ihn am Arm und führte ihn mit sanftem Druck neben sich her.

Sie bewegten sich tiefer in den Schatten der Berge hinein, wichen ein Stück von ihrem bisherigen Kurs ab und betraten eine schmale, mit Geröll und Eistrümmern angefüllte Schlucht. Meilen entfernt, wie es Skar vorkam, glomm das trübe Licht einer Fackel. In ihrem Schein war der Eingang einer Höhle zu erkennen.

Skar befreite sich aus Dels Griff und ging die letzten Schritte aus eigener Kraft. Er war kaum in der Position, sich noch Stolz leisten zu können, aber er wollte nicht, daß die Freisegler sahen, wie schwach er wirklich war. Manchmal, dachte er bitter, war es nicht leicht, ein Vorbild sein zu müssen.

Vorsichtig ging er zwischen den kreuz und quer daliegenden Felsen hindurch, stieg, die Arme wie ein Seiltänzer ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten, über titanische Eisschollen, die wie Glas vom Himmel gestürzt waren, und bückte sich, um in die Höhle hineinsehen zu können.

Im ersten Moment sah er nichts. Die einzelne Fackel, die einer der Männer entzündet und in einen Riß direkt neben dem Eingang gesteckt hatte, spendete kaum genug Licht, um mehr als vage Schatten erkennen zu können, und aus der Tiefe der Höhle wogte Dunkelheit wie eine körperlose schwarze Welle heran. Skar richtete sich auf, sah zurück und lehnte sich gegen die Wand, um seine Schwäche zu verbergen. Die Männer schleppten sich in einer weit auseinandergezogenen Kette an ihm vorbei und verschwanden gebückt oder auf Händen und Knien kriechend im Inneren des Berges.

Das Schwindelgefühl in seinem Kopf verging allmählich. Der Schwächeanfall war vorüber, aber Skar wußte, daß er wiederkommen würde. Das, was er gespürt hatte, war eine erste Warnung gewesen, mehr nicht; ein erstes, noch zaghaftes Anklopfen der Erschöpfung. Einen weiteren Tag würde er nicht durchstehen, er nicht und die anderen auch nicht. Nicht einmal Del. Die Entscheidung würde morgen fallen, so oder so.

Er wartete, bis der letzte Mann die Höhle betreten hatte, ließ sich dann auf Hände und Knie sinken und kroch ebenfalls durch den Eingang. Der Fels war sehr dick; sieben, vielleicht acht Meter; der Höhleneingang war eher ein Tunnel. Er kroch bis zum Ende des Stollens, richtete sich auf, hielt sich mit der Linken an der Wand fest und sah sich im flackernden roten Licht der Fackel um. Selbst hier, im Inneren des Berges, war überall Eis. Aber es war spürbar wärmer als draußen, und sie fanden Schutz vor dem Wind. Die meisten Männer schliefen bereits. Ein paar saßen in kleinen Gruppen zusammen und aßen, hier und da hörte er Fetzen eines Gespräches, und als er, behutsam zwischen den kreuz und quer daliegenden Männern hindurchgehend, tiefer in das niedrige steinerne Gewölbe eindrang, glaubte er fast so etwas wie Gesang zu hören. Aber es waren nur die Laute der Schlafenden: Atemzüge, ein gedämpftes Stöhnen und Raunen, Laute, die sich in seiner Phantasie zu einem düsteren Todesgesang vereinten.