Skar stand auf, wandte sich zur Tür und suchte hastig nach festem Halt, als das Schiff von einer stärkeren Woge getroffen wurde und sich bedrohlich auf die Seite legte. Del grinste. Skar schenkte ihm einen bösen Blick, zerbiß einen Fluch auf den Lippen und ging hastig zur Tür. »Ich lasse dich in vier Stunden ablösen«, sagte er, während er den Schlüssel im Schloß herumdrehte und ihn sorgsam an den Haken zurückhängte.
Del knurrte eine Antwort, rollte sich unter der Wand wie ein Hund zusammen und zog mit der linken Hand eine Decke heran. Kopfschüttelnd wandte sich Skar ab. Er beneidete Del keineswegs um seine Aufgabe. Verglichen mit den Temperaturen in der Mannschaftskabine war es hier unten warm, und trotzdem hatte er schon nach den wenigen Minuten, die er hiergewesen war, das Gefühl gehabt, selbst der Gefangene und nicht der Wächter zu sein.
Mit einem letzten, abschließenden Nicken, das Del schon gar nicht mehr zur Kenntnis nahm, verließ er den Raum, legte den Riegel von außen vor die Tür und eilte durch den niedrigen Gang zurück zur Mannschaftskabine.
Von Rayan und dem Veden war keine Spur mehr zu sehen, als er die Kajüte betrat. Sie waren wieder oben an Deck, wie fast immer, obwohl es dort für sie nichts zu tun gab. Nichts außer zu warten und den näher kommenden schwarzen Punkt am Horizont anzustarren. Aber Rayan gehörte zu jener Art von Kapitänen, die nichts von ihren Männern verlangten, was sie nicht selbst zu tun bereit und in der Lage waren, und er schien dies ununterbrochen unter Beweis stellen zu müssen. Ein Verhalten, für das Skar kein Verständnis hatte. Es nutzte niemandem, sondern schadete im Gegenteil. Aber sie waren in einer Situation, in der rationales Handeln nicht mehr unbedingt die wichtigste Rolle spielte. Vielleicht war Rayans Benehmen auch eine Erklärung für die stoische Gelassenheit, mit der die Männer dort oben noch immer weiterkämpften. Gowenna saß allein an ihrem Tisch und redete mit einem Matrosen, der, vergraben unter einem Berg von Decken und zweckentfremdeten Kleidungsstücken, auf dem Boden lag und ihr mit ernstem Gesicht zuhörte. Skar eilte an ihr vorüber, ohne hinzuhören. Ihr Gespräch drehte sich, wie nahezu alles, was während der letzten drei Tage an Bord des Schiffes gesprochen wurde, um den Dronte. Sie waren der Vernichtung entkommen, aber der Tod war nur hinausgeschoben, nicht besiegt, und es kam Skar manchmal vor, als bildeten sie sich ernsthaft ein, ihn wegdiskutieren zu können.
Er ging zu seinem Lager, einem verlausten Bündel gleich denen der anderen, ließ sich darauf nieder und suchte in den schmuddeligen Fetzen nach etwas, das er als Kopfkissen benutzen konnte. Es gab keine Kojen oder auch nur Bettstellen auf der SHAROKAAN, sondern nur eine Anzahl zerschlissener Bündel, auf denen die Besatzung - und auch da machte Rayan keine Ausnahme - wechselweise schlief. Auch Gowenna und er mußten sich damit begnügen. Nicht weil Rayan sie absichtlich schlecht behandelte, sondern weil es auf dem vollgestopften Schiff einfach keinen anderen Raum gab, in den sie sich hätten zurückziehen können. Sie hatten für die Überfahrt bezahlt, sehr viel bezahlt sogar, aber das bedeutete nicht, daß sie mehr Anspruch auf eine besondere Behandlung als irgendein Mannschaftsmitglied hatten. Das einzige Bett auf dem ganzen Schiff stand vorne in Velas Zelle, und auch dies war erst in Anchor zusätzlich an Bord gebracht worden, auf Geheiß der Ehrwürdigen Mutter.
Das Schiff wiegte sich sanft unter ihm, und das dumpfe, regelmäßige Klatschen, wenn sich die Wellen an der Bordwand brachen, hatte etwas seltsam Beruhigendes. Das dunkelrote Licht der glühenden Kohlen schimmerte sanft durch seine geschlossenen Lider und gaukelte ihm eine Wärme vor, die kaum da war. Er bewegte sich unruhig, zog die Decke enger um die Schultern und drehte das Gesicht zur Wand, um möglichst viel von der ausgestrahlten Wärme aufzufangen.
»Schläfst du?«
Skar öffnete widerwillig die Augen, wälzte sich herum und setzte sich auf. Diesmal vermied er es sorgsam, mit der Wand in Berührung zu kommen.
Gowenna hockte sich neben ihn auf den Boden, stand noch einmal auf, um eine Decke als Unterlage heranzuziehen, und ließ sich mit einem Laut, der sowohl Erschöpfung als auch Resignation - oder beides - ausdrücken konnte, auf das provisorische Lager sinken. Das dunkelrote Dämmerlicht im Inneren der Kabine tauchte ihr Gesicht in gnädige Schatten. Sie hatte sich angewöhnt, stets so zu sitzen, daß sie ihrem Gegenüber die unversehrte rechte Seite zuwandte, und auch er machte da jetzt keine Ausnahme mehr. Es war einmal anders gewesen. Er merkte plötzlich, daß er sie anstarrte, senkte den Blick und suchte vergeblich nach einem passenden Wort.
»Es braucht dir nicht peinlich zu sein«, bemerkte Gowenna ruhig. »Gerade du solltest wissen, wie ich aussehe.«
Skar sah auf, aber Gowenna sprach rasch weiter und gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Glaubst du, daß wir eine Chance haben ?« fragte sie.
Skar zögerte. Er wollte einfach nicht mehr darüber sprechen, aber er spürte, daß er es mußte, wenn er nicht wirklich grob werden wollte. »Eine Chance? Gegen den Dronte? Niemand hat ihn jemals besiegt.«
»Aber einige sind ihm entkommen.«
Skar lächelte. »Wer hat das gesagt? Rayan?«
»Nein. Ich... habe Geschichten gehört.«
»Du wählst das richtige Wort«, sagte Skar. »Geschichten. Manche behaupten es, aber ich glaube nicht, daß es wahr ist.«
»Wir wüßten kaum, daß es so etwas wie einen Dronte überhaupt gibt, wenn jede Begegnung mit ihm tödlich enden würde«, beharrte Gowenna.
»Das mag sein - aber wenn, dann hatten die anderen bessere Chancen. Wir machen kaum noch Fahrt. Und er holt immer mehr auf.« Gowenna schwieg einen Moment, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme spöttisch. »Was ist mit dir?« fragte sie. »Hat dich Rayan mit seinem Gerede von Tod und Untergang schon angesteckt?« Sie lächelte, zog die Knie an den Körper und stützte das Kinn darauf. Das dunkelrote Licht des Kohlefeuers gab diesem Lächeln etwas seltsam Warmes, Vertrautes. Für einen kurzen, ganz kurzen Moment glaubte Skar in ihren Zügen eine Schönheit zu entdecken, die vorher nicht dagewesen war. Etwas Sanftes und Weiches und Mädchenhaftes, das vielleicht jahrelang tief in ihr geschlummert hatte und erst jetzt hervorbrach. Aber dann hob sie den Kopf, und Skar blickte wieder in die zerstörte Kraterlandschaft, die früher einmal das Gesicht einer schönen Frau gewesen war. Die Illusion zerplatzte.
»Was wirst du tun, wenn wir es schaffen?« fragte sie plötzlich. Skar starrte sie an. »Findest du, daß jetzt der richtige Moment -«
»Der einzige Moment, Skar«, unterbrach ihn Gowenna. »Du hast es selbst gesagt - er kommt näher. Wir werden nicht mehr oft Gelegenheit haben, allein miteinander zu reden. Und ich will wissen, woran ich bin. Ich hätte dich schon... schon längst fragen sollen.«
»Wonach?« fragte Skar betont.
»Was du tun wirst, wenn wir in Pan'am ankommen«, antwortete Gowenna.
Skar lachte unsicher. »Das, was die Ehrwürdige Mutter von mir verlangt hat«, sagte er. »Du weißt es. Du warst dabei. Ich werde Vela zum Berg der Götter bringen, damit sie dort ihr Kind zur Welt bringen kann, und...«
»Du weißt, daß sie sterben wird, sobald dies geschehen ist?« unterbrach ihn Gowenna wieder.
»Wieso? Sie ist gesund, und -«
»Das meine ich nicht, und du weißt es. Der Rat der Satai wird sie nicht leben lassen, Skar. Er darf es nicht zulassen, daß sie am Leben bleibt. Nicht nach allem, was geschehen ist.«
Skar schüttelte unwillig den Kopf. Etwas war in Gowennas Stimme, das ihn alarmierte. »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Sie stellt keine Gefahr mehr dar, und -«
»Sie nicht, aber ihr Wissen. Sie hat Geheimnisse ergründet, die für uns Menschen verboten sind. Sie ist noch immer gefährlich.«
»Aber das ist doch Unsinn«, murrte Skar. »Du -«
»Du weißt es«, fiel ihm Gowenna ins Wort. »Aber du willst es nicht wahrhaben.«