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Der Balkon lag weniger als fünf Meter über dem Boden, und es war kein Balkon, nichts künstlich Geschaffenes, sondern einer von zahllosen Vorsprüngen und Erkern, die die Natur willkürlich über die Wände verstreut hatte, als sie diese zyklopische Höhle erschuf, nur nachträglich geglättet und mit einer Brüstung versehen. Die Höhle selbst war gigantisch - eine kuppelförmige Blase aus zernarbtem braungrauem Fels, deren Wände nicht einmal das geduldig vorrückende Eis vollkommen bedecken konnten. Ihr höchster Punkt mußte annähernd eine halbe Meile über ihren Köpfen liegen. Skar war verwirrt, aber auch erleichtert, auf eine schwer zu beschreibende Art. Wenn dies wirklich ein Teil der Stadt war, deren erstarrten Leichnam sie durchquert hatten, so einer, der von ihren Erbauern unverändert von der Natur übernommen und für ihre Zwecke nutzbar gemacht worden war. Obwohl die Kälte und der scharfe, durchdringende Geruch des Salzwassers wie kleine scharfe Messer in seine Kehle schnitten, hatte er plötzlich das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen wieder frei atmen zu können. Der die ganze Zeit auf seinen Gedanken und seiner Seele lastende Druck wurde schwächer.

»Was, glaubst du, ist das hier?« fragte Yar-gan. Skar verstand die Worte, obwohl er ihn nicht angesehen und der Sumpfmann mit Dels-menschlicher-Stimme geredet hatte. Der finstere Zauber Cor-ty-cors war hinter ihnen zurückgeblieben. »Jedenfalls kein Eis«, antwortete Skar mit einer Heiterkeit, die ihn selbst erstaunte. Er seufzte. »Ich habe schon angefangen zu glauben, daß die ganze Welt aus Eis besteht.«

Yar-gan lächelte kurz und wurde dann wieder ernst. »Dort drüben scheint die Einfahrt zu sein«, murmelte er. Skar sah in die Richtung, in die der Sumpfmann deutete. Der braune Fels und das Wasser, das geduldig an ihm nagte, saugten das Licht auf und machten es schwer, Einzelheiten zu erkennen; der Blick reichte nicht weit über die Hälfte der steinernen Blase hinaus, und alles, was dahinter lag, waren Schatten und Finsternis. Aber ein Teil dieser Dunkelheit schien tiefer zu sein, nur um eine winzige Nuance; ein noch dunkleres Schwarz auf schwarzem Hintergrund, und als Skar eine Weile hinsah, glaubte er eine Anzahl winziger flimmernder Punkte zu erkennen. Sterne, die auf dem Nachthimmel glitzerten, der hinter dem niedergebrochenen Teil der Höhlenwand erkennbar war. Wenn es so war, dann mußte die Einfahrt gewaltig sein: breit genug, zehn Schiffe von der Größe der SHAROKAAN gleichzeitig hindurchzulassen. Die Vorstellung erschreckte Skar. Dieser Hafen konnte eine Armada aufnehmen, die größer war als alle Kriegs- und Handelsflotten der Welt zusammengenommen.

»Dort unten ist etwas«, sagte Yar-gan. Er beugte sich weit vor, hielt sich mit der Linken an der Balkonbrüstung fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und deutete mit der anderen Hand nach unten. Skar erkannte, was der Sumpfmann meinte: Etwa eine Meile entfernt schaukelten drei dunkle, gedrungene Schatten auf der Wasseroberfläche.

»Schiffe?« fragte er.

Yar-gan zuckte mit den Schultern. »Ich kann zwar etwas besser sehen als du, aber...« Er überlegte einen Moment, zuckte abermals mit den Achseln und richtete sich wieder auf. Das Eis war geschmolzen, wo er sich festgehalten hatte. Seine Hand hinterließ einen deutlichen Abdruck auf der weißen Fläche. »Holen wir die Männer und sehen nach«, sagte er. »Wenn es Schiffe sind, finden wir auch eine Möglichkeit, sie wieder seetüchtig zu machen und von hier zu verschwinden.« Plötzlich lächelte er. »Es scheint fast, als hätten wir ausnahmsweise einmal Glück, Skar.«

»Aber sicher«, erwiderte Skar bissig. »Wir müssen nur noch Vela und Gowenna finden, Gowennas Pläne durchkreuzen - wie immer sie aussehen mögen -, Helth unschädlich machen, die Eiskrieger besiegen und den Dronte vernichten. Mehr nicht.«

Gegen seine Erwartung wurde Yar-gans Grinsen noch eine Spur breiter. »Allmählich beginnst du wieder zu dem zu werden, der du einmal warst, Skar«, sagte er. »Ich habe deine herzerfrischende Art, einem Mut zu machen, schon immer geliebt.« Er lachte, drehte sich um und deutete auf den Stollen. »Warte hier. Ich hole die Männer.« Skar blickte ihm verwirrt nach. Yar-gans Worte hatten ein seltsames Echo in ihm ausgelöst. Das Gefühl von etwas Vertrautem, denn der Sumpfmann hatte auf eine Weise und in einem Tonfall mit ihm geredet, wie er es sonst nur von Del gekannt hatte, aber auch fast so etwas wie Erstaunen über sich selbst. Plötzlich fiel ihm auf, wie sehr sich seine Gedanken geklärt hatten, seit sie aus dem Stollen heraus waren. Alles wirkte mit einem Mal wieder real und echt, selbst die Kälte und die zahllosen winzigen schmerzenden Wunden an seinen Gliedern - es war, als wäre ein Schleier von seinen Sinnen gezogen worden, als wären die vergangenen Tage wirklich nicht mehr als ein übler Traum gewesen, aus dem er allmählich erwachte. Yar-gan hatte recht gehabt - er schien zu erwachen wie aus einem tiefen, bedrückenden Schlaf, wurde wieder zu dem Mann, der er gewesen war, bevor dieser Alptraum begann. Selbst das Gefühl der Mutlosigkeit wich allmählich jenem Jetzt-erst-recht, das er von Del gelernt und das ihm schon so oft geholfen hatte. Und es ging schnell, sehr schnell. Der logische Teil seines Denkens sagte ihm immer noch, daß sie so gut wie verloren waren und nicht nur ein, sondern gleich ein halbes Dutzend Wunder brauchen würden, um diese Insel lebend zu verlassen, aber daneben war auch, noch schwach, aber mit jedem Atemzug an Kraft gewinnend, der alte Trotz, der Wille zu überleben, ganz gleich wie, weiterzukämpfen, auch wenn seine Lage noch so aussichtslos erschien.

Er spürte erst jetzt, wie sehr er dieses Gefühl vermißt hatte in den letzten Tagen. Und im gleichen Maße wurde ihm klar, wie oft er an den Tod gedacht hatte. Wie konnte er es geschehen lassen, daß er sich ihm näherte, es zulassen, daß er sich Stück für Stück an ihn herantastete, bis er ihm fast wie eine Erlösung erschienen war! Sein Blick wanderte nachdenklich über die verzerrten Ränder des Eistunnels, durch den sie hierher gekommen waren. Yar-gan war dabei, die Männer zusammenzurufen - einigen mußte er helfen, überhaupt noch auf die Füße zu kommen -, aber ihre Gestalten kamen ihm unwirklich und beinahe transparent vor. Es gab eine unsichtbare Grenze, irgendwo zwischen dem Platz, an dem er stand, und dem Eingang zur Stadt, eine Linie, hinter der alles irreal und verschwommen wirkte; die Grenze zwischen seiner und der Welt der Sternengeborenen, die sie mit hierher auf Enwor gebracht hatten. Cor-ty-cor war mehr als eine tote Stadt, dachte er schaudernd. Der Geist, der ihre Mauern einst beseelte, war noch immer da. Die Seele der Stadt lebte noch, und sie war fremd und erschreckend wie ein schleichendes Gift, das in die Gedanken aller sickerte, die es wagten, sich ihr zu nähern. Cor-ty-cor brauchte keine Wächter, weder den Dronte noch die Eiskrieger oder Helth. Sie schützte sich selbst. Diese Stadt war der Tod, und sie tötete jeden, der sie betrat; langsam, fast unmerklich, aber unerbittlich.

Skar verscheuchte den Gedanken und drehte sich wieder herum. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, mußte ihm selbst eine Umgebung, die nur um eine Winzigkeit weniger tödlich und fremd war, wie ein Paradies erscheinen, und er wußte, daß das Hochgefühl in ihm trog, unter Umständen sogar ein ebenso gefährlicher Feind wie der böse Geist Cor-ty-cors sein konnte.

Er blickte erneut und aufmerksamer als beim ersten Mal über das Hafenbecken und den braungrauen porösen Fels, der die kreisförmige Wasserfläche säumte. Es gab keine Kais oder Hafenanlagen in irgendeiner Form, sondern nur ein glattes, vereistes Felsband, das sich am Fuße der Höhlen wand rings um das Wasser zog; nicht mehr als zehn oder zwölf Schritte breit und ohne sichtbare Unterbrechungen. Da und dort entdeckte er weitere Stollen wie den, durch den sie hierher gelangt waren, manche ebenerdig oder auf Vorsprüngen und Balkonen endend, ähnlich dem, auf dem er stand, andere wie die Einfluglöcher von übergroßen Vogelhöhlen weit oben in der Wand, ohne daß es eine Treppe oder irgendeine andere Möglichkeit zu geben schien, zu ihnen hinaufzugelangen. Aber vielleicht waren sie auch zerfallen in all den Äonen, die vergangen waren, seit sich das Schweigen des Todes über diese Stadt gelegt hatte. Hier draußen war die Zeit nicht stehengeblieben wie in den anderen Teilen Cor-ty-cors. Ihre Spuren waren überall. Der Fels war zernagt von Äonen voller Wind und Salzwasser und Erosion, und im gleichen Maße, in dem sich seine Augen an das unsichere Dämmerlicht gewöhnten, begann er, die Spuren zu erkennen, die das Meer in die Wände gegraben hatte: dunkle, übereinanderliegende Linien, die sich von der Wasserlinie bis fast unter die Decke erstreckten, ein Dutzend oder mehr Markierungen, jede für ein Jahrtausend oder mehr stehend. Der Wasserspiegel des Ozeans mußte sich mehrmals gehoben und gesenkt haben, seit diese Höhle entstanden war. Vielleicht hatte es damals noch nicht einmal einen Ozean gegeben. Vielleicht war sie älter als die Meere, so alt wie diese Welt, eine Narbe, die von ihrer Geburt zurückgeblieben war, und vielleicht hatte es Millionen und Abermillionen Jahre lang hier unten weder Licht noch Laute gegeben, sondern es war ein Universum des Schweigens gewesen, so lange, bis ein Teil ihrer Wand einstürzte und das Meer brausend und schäumend in den Hohlraum schoß. Sie mußte bereits uralt gewesen sein, als die Sternengeborenen sie entdeckten und für ihre Zwecke nutzten.